„Tue recht und scheue niemand“

BERLIN. Am heutigen 11. April begeht der Humanist Wolfgang Lüder seinen 70. Geburtstag. Er hat sich an diesem Tag – im Gegensatz

zu seinen bisherigen Fünfer- und Zehner-Lebensabschnitten – herausgelöst aus öffentlichen Verpflichtungen. Wir schicken ihm einen Gruß nach Venedig, wo er sicher diesen Tag, Hedonist, der er auch ist, feiert, wie er es mag und es sich verdient hat.

Das Lebensmotto von Wolfgang Lüder – in der Überschrift zitiert – hat es in sich. Es ist dem Spruch in einem Lüder-Familienwappen entlehnt, stammt aber ursprünglich aus dem Gedicht von Ernst Moritz Arndt „Teutscher Trost“ (1813), ist dort der letzte Vers und heißt wörtlich: „Tue Recht und fürchte nichts“. Aber die meisten Fassungen nehmen statt „nichts“ das Wort „niemand“, was dem Ganzen eine antifeudale Pointe gibt, die auch Arndt viel näher kommt, weil sie personalisiert, vom ungenauen „Nichts“ abhebt und den christlichen Ständestaat angreift, dessen Obere bekanntlich mehr als nur zu scheuen waren.

Das Gebot „Tue recht“ beschreibt eine moralische Maxime, die zwischen „richtig“ und „rechtschaffen“ angesiedelt ist und durchaus groß geschrieben („Recht“) werden kann (wie im Arndt-Zitat), weil Recht tun deutlich etwas anderes ist als dem Herrn die „Ehre“ zu erweisen, was, nach Georg Simmel, den Unterschied zwischen Herrn und Knecht ausmacht.

Das Wort „scheu“ wiederum drückt Schüchternheit, Zurückhaltung und Furchtsamkeit aus; „scheuen“, dass man zurückschreckt, Furcht zeigt, stutzt, Widerwillen empfindet und sich zurückhält. So ist das Verb „scheue“ eine abschätzende, aber nicht abschätzige Reaktionsweise zwischen „Scheu haben“ (vorsichtig sein) und „Scheu verbergen“ (keine Angst zeigen). Große Hindernisse, so eine Interpretation, erscheinen noch größer als sie ohnehin sind, wenn man davor vorschnell zurück scheut. So wurde das in der Familie Lüder wohl gesehen, denn – so die Kolportage – als Tischspruch wurde daraus „Vorzeitig nachgedacht – nachdrücklich gehandelt“, der Spruch also im Sinne von „Vorzeitig nachdenken – nachdrücklich handeln“ gesehen.

Diese Auslegung liest sich ebenfalls mehrdeutig, zumal wenn man weiß, dass sein Vater Gastwirt war. Wir kamen einmal auf das Elternhaus, als ich – was auch immer der Anlass war – darüber philosophierte, wie der Stresemann (eines seiner politischen Vorbilder) wohl die Arbeiterbewegung kaputt machen half (die ja bis 1914 weitgehend in Kneipen stattfand) mit den Folgen seiner Doktorschrift über den Flaschenbierhandel.

 

Das sind Assoziationen, die er mag, selbst in Menge drauf hat und die ihn hintergründig-ironisch Schmunzeln machen. Wolfgang Lüder hatte wohl stets Obacht auf scheinbar nebensächliche Querverbindungen der Geschichte, auf Abläufe und Hintergründe der handelnden Personen, in denen Politik geschieht, auf scheinbare Nebensächlichkeiten achtend und hinweisend, die, wenn man sie nicht beachtet, alles kaputt machen können. Seine seltenen Wortmeldungen im Bundesvorstand waren und sind stets grundsätzlich auf diese Weise.

Wolfgang Lüder behandelt alle Vorgänge mit einer Bedeutsamkeit, als fänden sie im Bundestag oder im Berliner Senat statt. Das ist für einen Notar und Senator die eigentliche Lebensversicherung, aber gewöhnungsbedürftig für viele Verbandsfunktionäre, die vom freien Denken herkommen, denen die richtige Weltanschauung schon genügt und denen schwer beizubringen ist, dass richtiges Denken und scharfe Erklärungen noch keine Politik machen.

Freundlich, aber bestimmt, vermittelt Wolfgang Lüder gemeinsam mit anderen erfahrenden Kämpen seit fast sieben Wahlperioden den jeweils Neuen im Bundesvorstand die Gewissheit, an etwas Wichtigem teil zu haben – für einen jungen Verband durchaus eine lehrreiche Erziehung der Erzieher. Wolfgang Lüder ist jetzt seit fast 15 Jahren dabei und Gründungsmitglied des „Humanistischen Verbandes Deutschlands“ im Januar 1993. Und – egal wer Vorsitzender war – weiter gegeben wurde der obige Leitsatz in der Lesart: „... den Wolfgang fragen, bevor wir ...“.

 

Wolfgang Lüder kommt aus Celle in Niedersachsen und verließ den Ort nach dem Abitur 1957 am Humanistischem Gymnasium „Ernestinum“ mit dem Moped (durch die DDR!) Richtung Berlin zum Jurastudium an der Freien Universität. Schon im zweiten Semester setzt sein „Doppelleben“ ein ... immer zwei Tätigkeiten zeitgleich. Als Liberaler wurde er zum Präsidenten des Konvents (Studentenparlament der FU) gewählt und hatte hier drei Jahre Funktionen in der Studentenvertretung. Er war u.a. Sprecher der Studentenschaft im Akademischen Senat (und kann hier schöne Geschichten erzählen über das spätere Berliner CDU-Doppelgespann Diepgen und Landowsky. Schon im zweiten Semester wurde er noch in ganz anderer Hinsicht „verdorben“. Er hatte seitdem immer eine Sekretärin ... und braucht bis heute eine. Er konnte (und muss bis heute) immer schreiben lassen.

Man wird durch Umstände zum Humanisten gemacht und muss durchs Tun beweisen, dass man einer ist, nicht durch schöne Reden. Lüder lernte dies am Kriminalgericht Moabit als Strafrichter und später am Landgericht Berlin als Landgerichtsrat in Zivilsachen – da geht es um wirkliches Leben und viel Allzu-Menschliches ... und Wolfgang Lüder geht vollends in die Politik. Schon nach dem Studium war er Landesvorsitzender, dann Bundesvorsitzender des „Liberalen Studentenbundes Deutschlands“, später Landesvorsitzender, dann Bundesvorsitzender der „Deutschen Jungdemokraten“ und ab 1971 zehn Jahre Landesvorsitzender der FDP Berlin und Mitglied des Bundesvorstandes der FDP von 1962 bis 1992, mit kurzen Unterbrechungen, 1975 bis 1981 Mitglied des Senats von Berlin, zunächst als Senator für Wirtschaft, dann zusätzlich für Verkehr und seit 1976 daneben Bürgermeister von Berlin, von 1987 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages, zuletzt stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses, dort Schwerpunkt Wiedergutmachung von NS‑Unrecht und Europäische Innenpolitik (Schengener Abkommen) und seit 1991 bis zur Beendigung der Kommission (31.12.2006) Mitglied der „Unabhängigen Kommission Parteivermögen“, die das unrechtmäßig erworbene Vermögen der Massenorganisationen und Parteien der DDR an die neuen Bundesländer zu überführen hatte. Lüder wurde 1981 nach der Pensionierung als Richter selbständiger Rechtsanwalt und war bis Ende 2006 Notar.

Man kann all dies genauer nachschlagen bei Wikipedia oder bei Berlin.de (hier noch mit einem – fast – Jugendbild). Mehr wäre zu nennen: sein Engagement für das Jüdische Museum in Berlin, seine „Opernsucht“ (Entschuldigung) ...

 

Für zwei Organisationen hat sich Wolfgang Lüder öffentlich immer besonders stark gemacht, bei beiden war er Gründer bzw. Mitgründer: erstens der „Parlamentarische Freundeskreis Bonn-Taipeh (jetzt: Berlin-Taipeh)“; und zweitens der „Humanistische Verband Deutschlands“. Da setzt Lüder auch Hintergründiges ein, um diese Identifikationen und Innovationen öffentlich zu zelebrieren und zu symbolisieren. Er möchte stark machen, was noch schwach, aber kulturell bedeutsam ist. Als er zu seinem 65., einem „großen Bahnhof“, sich Geschenke verbat und statt dessen Spenden an diese beiden Vereine wünschte, hat das sicher viele Gratulanten fragen lassen, worum es sich gerade bei diesem HVD eigentlich handelt. Und als dann Cornelia Pieper in den vollen Saal kam, wurde sie von Lüder laut und flott begrüßt als erste Bundesgeschäftsführerin des HVD und jetzige (damals noch) Generalsekretärin der FDP (in dieser Reihenfolge). Aha.

1980 übersandte Wolfgang Lüder dem Berliner „Deutschen Freidenker-Verband“ eine Grußbotschaft als FDP-Vorsitzender zum 75jährigen Bestehen, s. Anhang1. Darin sicherte er den Freidenkern die Unterstützung seiner Partei auch für die nächsten 75 Jahre zu. Er meinte das jedenfalls ernstlich.

Das ist jetzt die richtige Stelle, etwas über Wolfgang Lüders Beitrag zum jüngeren organisierten Humanismus in Deutschland zu schreiben, was ja über den HVD weit hinausreicht. An dem, wie der Verband politisch denkt und handelt, hat er an entscheidenden Stellen ausschlaggebenden Anteil: „Humanistisches Selbstverständnis“, „Autonomie am Lebensende“ (einschließlich „Patientenverfügungen“), „Humanistische Beratung von Soldatinnen und Soldaten“, „Betreuungsrecht“, „Personenstandsrecht“, „Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“, der „Europa-Gedanke“ ...

 

Wozu Lüder historisch beigetragen hat und beiträgt, das ist nicht mehr und nicht weniger als die Weichenstellung für den möglichen Erfolg des modernen Humanismus – die Wiedervereinigung der drei freidenkerischen Traditionslinien zu einem neuen Anfang: der soziale Liberalismus, die sozialistisch-sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die alternative Lebensreform. Es verblüfft immer noch – trotz der realen Praxis des HVD, die im Moment die eigentliche Regie führt und neue Theorien erst herausfordert – wie wenig diese drei Strömungen und ihre jeweils handelnden Personen von ihren eigenen aktuellen wie historischen Verbindungslinien wissen.

Wolfgang Lüder hat, als Mitverfasser des Freiburger Programms der FDP, bezogen auf das neue Staat-Kirche-Verhältnis und die Abkehr des HVD vom traditionellen freidenkerischen „Kirchenkampf“ (anknüpfend an und sich zugleich lösend von Rudolf Virchow 1872 und Friedrich Naumann 1919), viel dazu beigetragen, dass sich Ideen des politischen Liberalismus und libertären Atheismus – ohne die die Freigeisterei der 1848er nicht entstanden wäre – im organisierten Humanismus wieder finden (Lüder selbst äußerte sich dazu in der Festschrift des HVD Berlin „Humanismus ist die Zukunft“, vgl. Anhang 2).

Wie im großen Kulturkampf der Bundesrepublik um die Abtreibungsfrage – also die juristische Gestaltung der existenziellen Frage des Zusammenhangs von Selbstbestimmung der Frauen und der kulturellen Definition des Lebensbeginns – in der die Konservativen und die Kirchen an ihrer Seite grandios unterlagen und an der vereinigten Linken scheiterten (wie sie einst Naumann definiert hatte), scheint sich dies aktuell in der Frage der Sterbehilfe (Patientenverfügungen) und der kulturellen Definition des Lebensendes wiederholen zu können.

Das wird ein Lehrstück auch für den HVD sein, was geht und was nicht – und was und wie breit heute links ist. Dass DIE LINKE derzeit diesen Begriff usurpiert, ist nicht gescheit und auf Dauer hinderlich. Lüder hat sich stets als Kulturlinker verstanden und einen entsprechenden Vorwurf im Parlament freudig bejaht. Was auch immer einen Sozialisten von einem Liberalen trennt – die Achtung vor der Autonomie des Individuums (hoffentlich) nie mehr.

 

Hier könnte die Laudatio enden, wären nicht noch drei Anmerkungen über den eher unbekannten Wolfgang Lüder nötig.

 

Da ist erstens sein innerer Drang, Urlaube mit anregender Lektüre anzureichern, auf sonst verhinderte Art und auf anderem Terrain als üblich richtig zu arbeiten und zumindest zeitweise dem „Doppelleben“ zu frönen. Die „Humanistische Akademie“ und ihre Publikationsreihe „humanismus aktuell“ konnten ihm so immer mal wieder einen Artikel bzw. eine Rezension abverlangen (und er freut sich stets, „Ausführung“ zu melden). Anhang 3 enthält seinen für Heft 9 („Das gute Recht der Freigeister“) 2001 geschriebenen Artikel zu Restitutionsfragen „Einige sind gleicher“ und Anhang 4 seine Rezension (für das kommende Heft 20 „Säkulare Geschichtspolitik“) über Julian Nida-Rümelins freiheitliches Humanismus-Verständnis.

 

Zweitens ist diese Würdigung auch gut für einen Seitenhieb ins eigene säkulare Spektrum, in dem sich leider noch zu oft mancher Theoretiker selbst genügt. Seit zwei/drei Jahren ist die Debatte über die „Zehn Gebote“ und ihre humanistischen Alternativen neu aufgeflammt, die ja die gesamte Freidenkerei seit ihren 1848er vormärzlichen Anfängen stets begleitet hat. Den Produzenten neuer Vorschläge und alter Ideen ins Stammbuch die Anhang 5, Wolfgang Lüders grundlogischer Versuch, die Sache mal zu wenden in „10 Gebote an die Christen“ vom März 1998, auch in „humanismus aktuell“ (Heft 2).

 

Drittens gehört zum Bild des Humanisten Wolfgang Lüder, dass er ein begabter Familienmensch ist. Nach zwei gescheiterten Ehen ist er seit zwanzig Jahren verheiratet mit Christina Rabini-Lüder. Aus den zusammengelegten Familien hat das Ehepaar vier – auch beruflich erfolgreiche – Kinder und bisher acht – wie anders als so kann dies ein Auch-Opa bezeichnen – zauberhafte Enkel. Sie lernen vielleicht von ihm seine Zuversicht und seine Disziplin und seinen Rückhalt in der Familie, denn dies war es, was Wolfgang Lüder und seiner Frau half bei der Überwindung lebensbedrohlicher Krankheiten. Davon machen beide kein Aufheben.

 

Mit einem freundlichen Gruß und dem Dank des derzeitigen Bundesvorsitzenden

 

Horst Groschopp