SCHWEIZ. (hpd) Die Religionen sind die grossen Bremser auf dem Weg zu einer offenen Gesellschaft. Heute in Ägypten, gestern in der Schweiz. Kurt Marti wirft einen Blick in die Schweizer Vergangenheit, um die aktuelle Situation in Ägypten verständlich zu machen.
In Ägypten kämpfen säkulare, weltoffene Kräfte gegen religiös-konservative Schichten der Bevölkerung.
Unter dem Druck der Strasse hat Militärchef Abd al-Fattah al-Sisi die Muslim-Brüder aus der Regierung geputscht.
Einmal mehr in der Geschichte der Menschheit demonstriert eine Religion ihre bremsende, destruktive Kraft auf dem Weg zu einer freiheitlichen Gesellschaft.
General Dufour putschte gegen die Katholisch-Konservativen
Der distanzierte Blick auf Ägypten lässt uns leicht vergessen, dass im Europa des 19. Jahrhunderts ähnliche Kämpfe ausgefochten wurden und dass die Installierung demokratischer Rechtsstaaten nicht in einem Jahr oder Jahrzehnt vollendet waren, sondern dass die Geburtswehen fast ein ganzes Jahrhundert dauerten, von der französischen Revolution bis Ende des 19. Jahrhunderts.
Im damaligen Staatenbund Schweiz putsche General Guillaume-Henri Dufour im Jahr 1847 die helvetischen "Muslim-Brüder" aus den Regierungen der katholischen Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis, nachdem diese einen Sonderbund zur Verteidigung der katholischen Religion gegründet hatten. Dieser Sonderbundskrieg forderte rund 150 Tote und 400 Verletzte. 1848 kam es zur Gründung der modernen Schweiz.
Politisches Chaos: Züri-Putsch, Freischaren-Züge und Bürgerkriege
Bedeutend mehr Tote forderten die Bürgerkriege im Jahrzehnt vor dem Sonderbundskrieg. Beispielsweise die beiden erfolglosen, antiklerikalen Freischaren-Züge gegen die Katholisch-Konservativen in Luzern (1844 und 1845) oder der Putsch konservativer Kreise gegen die liberale Regierung in Zürich (Züri-Putsch 1839). Besonders heftig tobte der Kampf zwischen liberalen und konservativen Kräften im Kanton Wallis.
Im Jahr 1840 brachte ein erster Bürgerkrieg die Liberalen an die Macht, vier Jahre später ein zweiter Bürgerkrieg wiederum die Katholisch-Konservativen, welche besonders hart gegen ihre Gegner vorgingen: Mehr als 600 Anhänger der Liberalen wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen bis zu 20 Jahren verurteilt. Wer die geringste öffentliche Kritik äusserte, wurde gefangen genommen und landete im Kerker. (siehe: Arthur Fibicher, Walliser Geschichte)
Der Vatikan lieferte das anti-demokratische Programm
Der Widerstand der Katholisch-Konservativen im Wallis entzündete sich immer wieder an religiösen und schulischen Fragen: Der Klerus befürchtete den Verlust seiner Vorherrschaft über das Schulwesen und stellte sich notorisch gegen die Säkularisierung der Bildung. Als die liberale Regierung dem Volk im Jahr 1841 ein fortschrittliches Schulgesetz vorlegte, wurde dieses von der Walliser Bevölkerung unter der Propaganda des Klerus abgelehnt. Haushoch abgelehnt wurde im Wallis auch die eidgenössische Bundesverfassung (1848) und deren Revision (1874) sowie das eidgenössische Gesetz über das Ehe- und Zivilstandswesen (1875). Immer unter dem Einfluss der katholischen Kirche.
Das ideologische Programm der Katholisch-Konservativen wurde im Vatikan vorgebacken, der sich gegen die Errungenschaften der Aufklärung, gegen Demokratie und die Menschenrechte sowie gegen Wissenschaft und Bildung stellte. Prägend für diese rückwärtsgewandte Haltung war Papst Pius IX., dessen Pontifikat von 1846 bis 1878 dauerte. Einerseits verkündete er die Dogmen der Unbefleckten Empfängnis und der päpstlichen Unfehlbarkeit, andererseits geisselte er Demokratie, Presse- und Glaubensfreiheit mit scharfen Worten. Den italienischen Katholiken verbot er 1874 sogar die Teilnahme an demokratischen Wahlen.
Der Geist der konservativen Bremser wirkt bis heute nach
Nach dem Sonderbundskrieg übernahmen im Wallis die Liberalen und Radikalen die Macht. In der neuen Regierung waren die Katholisch-Konservativen nicht mehr vertreten. Doch die Machtübernahme der Liberalen und Radikalen dauerte nur bis 1857. Dann drehte sich das Karussell erneut in die andere Richtung. Unter dem Diktat der katholischen Kirche holte die Walliser Bevölkerung die Katholisch-Konservativen wieder in die Regierung und ins Kantonsparlament zurück. Darauf folgte die katholisch-konservative Vorherrschaft, welche 156 Jahre dauerte. Erst im vergangenen Frühling verlor die CVP die Mehrheit im Kantonsparlament.
Während dieser Vorherrschaft hinterliessen die Katholisch-Konservativen und ihre politischen Erben im Wallis unübersehbar ihre Spuren bis heute: Vetternwirtschaft und Parteifilz sowie Obstruktionen gegen eidgenössische Gesetze. Noch im Jahr 2010 verlor der Sekundarlehrer Valentin Abgottspon fristlos seine Stelle, weil er das Kruzifix in seinem Klassenzimmer entfernte. Ironie der Geschichte: Der damalige FDP-Staatsrat Claude Roch segnete die Entlassung bereitwillig ab. Seine parteipolitischen Ahnen werden sich im Grab umgedreht haben.
Eine Frage von Jahrzehnten und Jahrhunderten
Auch 165 Jahre nach der Gründung der Schweiz verlangt das Walliser Unterrichtsgesetz immer noch die Erziehung der Schulkinder zu "Menschen und Christen", was im Widerspruch zur Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Bundesverfassung ist und indirekt ein Berufsverbot für nicht-katholische Lehrpersonen darstellt. Und wenn letzthin der erste, einheitliche Lehrplan der Schweiz in die Vernehmlassung ging, dann ist das ebenfalls eine Spätwirkung des katholisch-konservativen Widerstandes gegen ein zentrales, säkulares Bildungswesen. Die Bremsklötze der Religionen sind enorm widerstandsfähig. Deshalb sind politische Veränderungen keine Frage von Jahren, sondern von Jahrzehnten und Jahrhunderten. Das wird auch in Ägypten nicht anders sein.
Kurt Marti
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlichung auf infosperber.ch