Am Samstag war der rote Doppeldeckerbus mit dem Slogan "Kirchenstaat? Nein danke" zum ersten Mal öffentlich zu sehen: Am Potsdamer Platz in Berlin – auch wenn dieser Standort erst erkämpft werden musste. Abends diskutierten Philipp Möller, Michael Schmidt-Salomon und Tanja Baudson über die Frage der Evidenzbasiertheit deutscher Politik in der "Urania".
Am Samstag ging es endlich los: Die Säkulare Buskampagne 2019 startete in Berlin. Erste Station war der Potsdamer Platz. Und da gab es auch gleich die ersten Probleme: Trotz angemeldeter und genehmigter Versammlung durfte der rote Doppeldecker-Bus nicht auf den Platz fahren. Dieser dürfe maximal nur mit Fahrzeugen von 2,8 Tonnen belastet werden, so die Polizei. Für alles andere brauche man eine Sondergenehmigung. Bearbeitungszeit: zwei Wochen. Von Argumenten, dass auf dem Potsdamer Platz regelmäßig Großdemonstrationen stattfinden – Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) erzählte den Polizisten, auch er selbst habe schon hier anlässlich der Demonstration gegen den Papst-Besuch im Bundestag 2011 auf eben diesem Potsdamer Platz von einem großen Truck gesprochen, der noch deutlich schwerer gewesen sei – oder dass das Pflaster auch die alljährlich stattfindende "Winterwelt" samt zwölf Meter hoher und 70 Meter langer "Rodelbahn" beziehungsweise einer 520 Quadratmeter großen Eislauffläche zu tragen vermag, ließen sich die Beamten nicht beeindrucken.
Nach einigem Hin und Her konnte der Kompromiss gefunden werden, dass zumindest Begleitfahrzeug und Infostand auf dem Platz aufgestellt werden dürfen, der Oldtimer-Bus sollte auf der angrenzenden Straße gegenüber des DB-Towers stehen. Dieser Bezug war entscheidend, schließlich hatte die Deutsche Bahn die Plakate der Säkularen Buskampagne nicht auf ihren Werbeflächen zeigen wollen, weil der Forderung nach einem weltanschaulich neutralen Staat nach Meinung des Staatskonzerns interessanterweise die Neutralität fehle.
Nachdem der Standort geklärt war, konnte wie geplant die Pressekonferenz zum Beginn der Kampagne stattfinden. Anschließend folgten zwei Stadtrundfahrten, auf denen Mitglieder der Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg (EHBB) allen interessierten Gästen ihr Berlin zeigten, vorbei am Abgeordnetenhaus, dem Checkpoint Charlie, dem Gendarmenmarkt, dem bisher skandallos im Bau
befindlichen Berliner Stadtschloss, dem Roten Rathaus, dem Berliner Dom, dem Brandenburger Tor, dem Reichstag und Schloss Bellevue und dabei einiges zu historischen Begebenheiten und aktuellen Entwicklungen zu berichten wussten. Die zweite Fahrt endete an der "Urania", dem "kleinen Leuchtturm des Wissens und rationalen Denkens in Berlin", wie sie der EHBB-Stadtführer nannte. Dort fand die Abendveranstaltung "Isch geh Bundestag – wie rational und evidenzbasiert ist die deutsche Politik?" statt, ein Podiumsgespräch zwischen dem Bestseller-Autor Philipp Möller, dem Philosophen Michael Schmidt-Salomon und der Hochbegabungs- und Kreativitätsforscherin Tanja Baudson, die auch Mitinitiatorin des deutschen "March for Science" ist.
Sie wollte für die Wissenschaftsfreiheit auf die Straße gehen, aufgehängt am Wert der Wahrheit, erzählt die Frau, die 2018 zur Hochschullehrerin des Jahres gewählt wurde. Wissenschaft solle auch zugunsten der Evidenzbasiertheit in die Politik hineinwirken. Aber auch im aktuellen Wissenschaftssystem selbst gebe es Verbesserungsbedarf: Es sei mit den Idealen der Wissenschaft nur sehr bedingt kompatibel. Das sei auch ein Grund, wie es zur heutigen Situation der allgegenwärtigen Fake News und dem Glauben daran gekommen sei. Als Nachwuchswissenschaftler habe man jedoch keine Motivation, sich in den politischen Diskurs einzubringen, erwidert Tanja Baudson darauf, es werde einem nicht gelohnt, es zähle lediglich die Quantität der Publikationen. Im Gegenteil müsse man sich in Berufungskommissionen für öffentliches Engagement rechtfertigen. Schmidt-Salomon, den jemand in einem Post kürzlich als "Wissenschaftsfundamentalist und Wahrheitsdogmatiker" bezeichnet hatte, fügte hinzu, er habe in Berufungskommissionen den Eindruck gewonnen, dass es an Universitäten eine "Selektion zum Mittelmaß" gebe. Man wolle die eigene Machtposition nicht durch besser Qualifizierte gefährden.
Philipp Möller erzählte von seinen Erfahrungen im deutschen Politikgeschäft, die er für sein derzeit entstehendes Buch "Isch geh Bundestag" unter anderem in mehreren Praktika bei Parteien gesammelt hat. Das Alltagsgeschäft halte Abgeordnete durch seine Terminfülle davon ab, sich eingehender mit den Themen beschäftigen zu können. Deswegen wolle er die teilweise mangelnde Evidenzbasiertheit weniger den Politikern als dem politischen System zum Vorwurf machen. Auch sei ihm in Ausschusssitzungen aufgefallen, dass bestimmte Abgeordnete immer wieder die gleichen Experten befragten – um damit ihre Parteisicht in der Debatte zu untermalen.
Möller habe in seiner Zeit im Bundestag getestet, inwieweit Politiker über Fakten informiert seien. Dabei habe er festgestellt, dass es bisweilen auch einer Verweigerung der Anerkennung gegenüber Fakten gebe. Michael Schmidt-Salomon und Philipp Möller betonten beide, dass die Fakten oft der herrschenden Meinung gegenüberstünden. So habe sich Vieles in der Welt in den letzten Jahren verbessert und nicht verschlechtert, wie beispielsweise die absolute Armut, die sich in den vergangenen 20 Jahren halbiert habe. Dies werde aber nicht wahrgenommen. Man müsse der Angst, mit der auch Politik gemacht werde, mit Rationalität begegnen. Dabei müsse man auch anerkennen, dass "nicht immer nur die sympathischen Parteien Recht haben", meint Möller. Man müsse den Populisten da Recht geben, wo sie Recht hätten. Die AfD sei sich des Umstands bewusst, dass sie nur stärker werde, solange man sie ignoriere.
Der hpd ist Medienpartner der Säkularen Buskampagne 2019 und berichtet über alle Tage der Tour des Busses durch Deutschland.
3 Kommentare
Kommentare
Marcus Meier am Permanenter Link
Warum ist das Wissenschaftssystem mit den Idealen der Wissenschaft nur sehr bedingt kompatibel? Wie begründet Tanja Baudson diese ihre These?
Guntram Kanig am Permanenter Link
Das würde mich auch interessieren
Viele Grüße
Guntram Kanig (Berlin)
hj_allemann am Permanenter Link
Sie berichten, was Philipp Möller über seine Erfahrungen gesagt hat, beispielweise dass Abgeordnete sich nicht genügend mit den Themen beschäftigen können, Fakten nicht wahrgenommen werden etc.
Das trifft auch auf Journalisten zu.
Ende September 2017 gab es eine Pressekonferenz, in der darüber gesprochen wurde, warum es in Katalonien keine Mobilisierung der Unabhängigkeitsgegener gibt. Erschienen waren u.a. Vertreter von „The Times“, „Le Monde“, „Der Spiegel“, „ARD“, „ZDF“, „Il Mattino“ und viele mehr. Viele Pressevertreter waren überrascht zu hören, dass viele Schüler in Katalonien wegen der Immersion[1] kein Spanisch lernen können und beklagten: „’Die spanische Regierung bringt uns nicht zusammen, sie hat uns nie einberufen, um uns eine Geschichte zu verkaufen’, erklärten die Auslandskorrespondenten. Andererseits laden die Diplocat - das externe Organ der Generalitat - und die katalanische Nationalversammlung (ANC) sie zum Frühstück ein und schenken ihnen sogar Geschenke, kurzum, sie ’kümmern’ sich viel mehr um sie.“ [2]
Aber Lobbyismus ist nicht der einzige Grund. Niemand ist so blind, wie der, der nicht sehen will.
Viel Erfolg mit dem Bus!
[1] "Immersion" bedeutet praktisch gesehen, dass in der Schule nur noch einsprachig (nämlich Katalan) gelehrt wird.
[2] Los corresponsales extranjeros se preguntan por qué no se moviliza la mayoría contra la independencia
Die Auslandskorrespondenten fragen, warum man nicht die Mehrheit der Unabhängigkeitsgegner mobilisiert.
https://www.elconfidencialdigital.com/articulo/politica/corresponsales-extranjeros-preguntan-moviliza-independencia/20170928193907086884.html.