(hpd) Der Journalist Bo Lidegaard beschreibt in seinem Buch „Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen“ anhand von Augenzeugenberichten ein beeindruckendes Beispiel menschlicher Zivilcourage. Damit bringt er anschaulich und faszinierend ein bedeutendes historisches Ereignis ins Licht öffentlichen Interesses, neigt aber auch mit seiner monokausalen Deutung zu einer Idealisierung der politischen Kultur Dänemarks.
Während der deutschen Besatzung vieler Länder im Zweiten Weltkrieg kam es ebendort zu Deportationen von Juden, die meist in den Konzentrationslagers mit deren Tod endeten. An der Umsetzung dieser Vernichtungspolitik beteiligten sich nicht selten auch die örtlichen Behörden. Dies erklärt auch die geringen Fluchtmöglichkeiten und hohen Opferzahlen. Indessen gab es auch eine Ausnahme von dieser Regel, gelang doch in Dänemark vielen Juden die Flucht nach Schweden. Mit Hilfe ihrer Mitbürger konnten sie meist mit Booten in das Nachbarland übersetzen. Dieser Rettungsaktion vorausgegangen waren eher spontane und unvorbereitete Hilfsaktionen, woran sich viele Menschen ganz unterschiedlicher sozialer Ausrichtung und Zusammensetzung beteiligten. Daran erinnert die voluminöse Darstellung „Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen“ von Bo Lidegaard, der nach Beendigung seiner diplomatischen Laufbahn seit 2011 als Chefredakteur der Tageszeitung „Politiken“ arbeitet.
Bereits zu Beginn macht er auf die allgemeine politische Bedeutung der Ereignisse aufmerksam: „Die Geschichte der Rettung der dänischen Juden ist nur ein winziger Teil der gewaltigen Geschichte der Shoah. Aber sie erteilt uns eine Lektion. Denn sie erzählt vom Selbsterhaltungstrieb, vom zivilen Ungehorsam und von der Hilfe, die fast ein ganzes Volk leistete, weil es sich empört und zornig gegen die Deportation seiner Landsleute auflehnte. Somit ist es auch die Geschichte von einer Gesellschaft, die kein Jota von ihrem Rechts- und Unrechtsempfinden wich, und das, während sie der überlegenen Macht deutscher Besatzer unterstand“ (S. 33). Diese Einschätzung zieht sich wie ein „roter Faden“ durch das Buch. Lidegaard wiederholt sie auch mehrfach mit anderen Worten, um eben die Dimension dieser „Ausnahme“ in der Ära der Vernichtungspolitik deutlich zu machen. Die Basis seines Buches bilden Augenzeugenberichte von Geflohenen, die häufig in Form von Tagebucheinträgen vorliegen und so ein anschauliches Bild der Ereignisse zeichnen.
Lidegaard hat sie integriert in eine chronologische Darstellung, die in 14 Kapitel die Ereignisse vom 26. September bis zum 9. Oktober 1943 nachzeichnen. Dabei konzentriert sich der Autor nicht nur auf die Ereignisse um die Flucht: Man findet auch Ausführungen zur Vorgeschichte der Ereignisse ebenso wie zu den Entscheidungsprozessen auf der Ebene der deutschen Besatzungsmächte. Bezogen auf die Letztgenannten macht das Buch deutlich, wie wichtig die ablehnende Einstellung großer Teile der Bevölkerung gegenüber der „Judenpolitik“ der NS-Diktatur war: „Selbst Hitlers zuverlässigste Männer, die zutiefst in die mörderische Logik der ‚Endlösung’ verstrickt waren, sahen sich behindert von der eindeutigen Ablehnung, die das besetzte Land dieser Logik entgegenbrachte“ (S. 101). Lidegaard verschweigt darüber hinaus auch nicht problematische Aspekte der Rettungsaktion wie die Geldzahlungen: „Manche Flüchtlinge mussten unerhört hohe Preise zahlen, aber es wurde niemand zurückgelassen, nur weil er nicht zahlen konnte – oder wollte“ (S. 516).
Dem Autor kommt das Verdienst zu, mit seinem Buch ein historisches Beispiel für mutige Zivilcourage in einer dunklen Epoche der Menschheitsgeschichte in Erinnerung gerufen zu haben. Gerade die Augenzeugenberichte geben einen anschaulichen Eindruck von den Ereignissen und veranschaulichen das hohe Maß an Mut und Tugend der Retter. Insofern handelt es sich um ein historisch-politisches Lehrstück besonderer Art. Gleichwohl muss betont werden, dass der ehemalige Diplomat Dänemarks auch zur Idealisierung Dänemarks neigt. „Das Dänische“ und „das Humanistische“ verschmelzen in seiner Darstellung so stark, dass er auch zu nicht unproblematischen einseitigen Kommentierungen neigt. So erklärt Lidegaard etwa die Spitzenpolitiker zu den „größten Helden der Rettungsaktion“ (S. 542), womit deren zumindest diskussionswürdige Kooperation mit der Besatzungsmacht nicht näher problematisiert wird. Bei aller notwendiger Kritik an einer solchen Monokausalität bleibt das Buch aber eine wichtige Dokumentation von menschlicher Zivilcourage.
Armin Pfahl-Traughber
Bo Lidegaard, Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen. Aus dem Englischen von Yvonne Badal, München 2013 (Karl Blessing Verlag), 591 S.