Ein Bündnis für gute Pflege

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Haltende Hände
Haltende Hände, Maik Meid, Flikr CC BY-ND 2.0

BERLIN. (hpd/dghs) Das Thema Pflege bleibt ein Dauerbrenner. Auch wenn in vielen Heimen ordentlich gepflegt wird, ist die Personalsituation fast überall angespannt. Missstände bei der Pflege sind deshalb immer möglich. Der bekannte Pflegekritiker Claus Fussek vom Verein für Integrationsförderung (ViF) spricht im Interview über die Probleme.

HLS: Herr Fussek, Pflegebedürftigkeit kann jeden treffen. Worauf sollte ich achten, sobald Pflege nötig ist?

Claus Fussek: Eigentlich ist es banal. Jeder möchte eigentlich zuhause versorgt werden, wenn es irgendwie geht. Mein Tipp: Falls es zuhause nicht mehr geht, sollte man ein Pflegeheim immer in Wohnortnähe suchen. Ohne regelmäßigen Besuch von Angehörigen und Ehrenamtlichen ist eine menschenwürdige Pflege in Heimen und Krankenhäusern nicht möglich.

 

Warum? Ist es denn unverzichtbar, dass der Angehörige mit anpackt?

Natürlich! Jeder von Ihren Leserinnen und Lesern, der Angehörige hat, weiß Bescheid oder kennt die Personalsituation vor Ort. Bereits bei der Grundversorgung müssen Sie mit anpacken. Sie müssen Essen reichen, waschen und dafür sorgen, dass die Menschen an die frische Luft kommen.

 

Woran beispielsweise erkenne ich, ob ein Pflegeheim gut oder vermutlich eher schlecht ist?

Sie müssen sich persönlich von guter Pflege überzeugen. Jedes Heim steht und fällt mit der Qualität der Leitung. Wenn Sie fragen, ob es Beschwerden gibt und erhalten die Antwort, alles ist gut, dann können Sie gehen. Ein Heim ohne Mängel kann es nicht geben. Transparenz und Ehrlichkeit sind absolut wichtig. Die offiziellen Noten können Sie vergessen. Das ist systematische Verbrauchertäuschung.

 

Sie prangern seit Jahren an, dass in der Altenpflege elementarste Grund- und Menschenrechte verletzt werden. Hat sich in den letzten Jahren etwas verbessert in Deutschland?

Leider hat sich wenig zum Besseren verändert. Denn noch immer kann mit den Folgen schlechter Pflege gutes Geld verdient werden. Ich hätte gerne unrecht, aber trotz meiner Mahnungen ändert sich so wenig. Ich transportiere nur die täglichen Hilferufe von verzweifelten Pflegekräften und Angehörigen

 

Was schildern die Pflegekräfte?

Die Pflegekräfte beklagen unter anderem ein Klima der Angst, fehlende Wertschätzung durch Kollegen und Vorgesetzte. Das Thema Mobbing ist eines der zentralen Probleme in der Pflege. Ein großer Teil von guten, engagierten und noch motivierten Pflegekräften geht und verlässt den Beruf, weil er es mit seinem Gewissen gegenüber den Pflegenden nicht vereinbaren kann. Bereits in der Ausbildung werden Schüler verheizt.

 

Kann man das durch verbesserte Rahmenbedingungen verändern?

Der Fisch stinkt immer vom Kopf, aber es gibt durchaus Heimleitungen, die ihrer Fürsorgepflicht für die Mitarbeiter nachkommen. Dazu gehören unter anderem Supervision, regelmäßige Fort- und Weiterbildung, Gesundheitsförderung und familienfreundliche Arbeitsplätze. Wertschätzung und tarifliche Bezahlung sollten eigentlich in normalen, guten Heimen selbstverständlich sein.

 

Aber warum gibt es noch so oft schlechte Pflege?

Wir leben in einem zertifizierten System, das “Pflege in den Betten” belohnt. Mobilisierung wäre da kontraproduktiv, weil sie die Höherstufung in eine höhere Pflegestufe hinauszögert. Ein gutes Pflegeheim würde sich eher dadurch auszeichnen, dass es Einnahmen verringert! Durch zum Beispiel gute fachärztliche Versorgung und Physiotherapeuten könnte man auch die Lebensqualität verbessern und Geld im System einsparen. Wir fordern in unserem Buch, dass aus den Erkenntnissen endlich Konsequenzen gezogen werden.

 

Hat nicht das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (die sog. Pflege-Reform 2012) spürbare Verbesserungen gebracht?

Wir brauchen keine neuen Gesetze, die bestehenden müssen nur eingehalten werden! Mir ist wichtig: Wie geht es den alten Menschen vor Ort? Dazu brauche ich ausreichend motiviertes, qualifiziertes, ehrliches Personal, und ich brauche “viele Hände”, “Schutzengel”, “Paten”, die sich um diese Menschen kümmern. Die Häuser stehen in Deutschland und nicht in ärmeren, fernen Ländern. Die Menschen, die wir dort derart “endlagern”, sind wehrlose, alte, kranke, pflegebedürftige, hilflose Sterbende, besonders schutzbedürftige Menschen. Es sind unsere Eltern, unsere Freunde. Großeltern, und irgendwann sind wir selbst dran.

 

Was sind nun Ihre Forderungen?

Was wir fordern, sind Selbstverständlichkeiten, die wir in unserem Buch zusammengefasst haben: essen, trinken, zur Toilette gehen, frische Luft. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion. Oder ist das Grundgesetz etwa altersabhängig? Gehen Sie in die Heime rein! Gehen Sie nachts rein und schauen Sie, wie die Nachtwache besetzt ist. Stellen Sie sich vor, dass eine Nachtwache für 60 Personen verantwortlich ist. Aber offensichtlich wollen wir es nicht wissen. Denn dann könnten wir wahrscheinlich nachts nicht ruhig schlafen.

 

In vielen Heimen ist Selbstbestimmung ein Fremdwort. Sollte eine ärztliche Hilfe bei der Selbsttötung, falls sie vom Patienten verlangt wird, möglich sein?

Ich bin persönlich Gegner der aktiven Sterbehilfe. Aber wenn wir es in unserem reichen Land nicht schaffen, alten Menschen die Garantie zu geben, dass sie in ihrem letzten Lebensabschnitt würdevoll, schmerzfrei und nicht alleine sterben, dann dürfen wir sie auch nicht am Sterben hindern.

 

Wie bewerten Sie die Diskussion zu einem möglichen Verbot der geschäftsmäßigen und organisierten Sterbehilfe?

Es geht bei dem Thema Sterbehilfe endlich um eine ehrliche Diskussion. Ich möchte, dass im Bundestag eine ähnlich leidenschaftliche Debatte um den letzten Lebensabschnitt geführt wird, so wie wir das bei der Pränataldiagnostik (PND) erlebt haben.

Aktive Sterbehilfe findet doch bereits ständig statt. Wir bringen die Menschen in die Situation, dass sie sich strafbar machen. Unter anderem die Fallpauschalen führen dazu, dass Sterbende, bei denen sich die Sterbesituation verlängert, noch transportiert werden.

Wir brauchen Palliativkultur in allen Pflegeheimen. Wir müssen die Diskussion um Sterbehilfe entideologisieren und ehrlich führen. Sonst besteht auch die Gefahr, dass sich dubiose Organisationen bilden. Viele Pflegekräfte sind inzwischen traumatisiert, weil sie erlebt haben, dass sie ständig gegen ihre eigenen ethischen Ansprüche handeln müssen. Eine Schwester hatte versprochen, dass sie einer Sterbenden die Hand hält. Aber sie konnte nicht anwesend sein und musste erleben, dass die Dame in der Nacht allein “krepiert” ist. Die Pflegerin war fix und fertig.

 

Welche Maßnahmen sind im Moment am dringendsten?

Eine weitere Forderung, die ich stelle: Wir brauchen zusätzliches Personal, nämlich Sozialpädagogen, Psychologen. Therapeuten und Seelsorger, auch Dolmetscher. Diese brauchen wir für Angehörige, Pflegekräfte, aber auch für die Ehrenamtlichen, weil alle mit diesen Situationen konfrontiert sind.

Ich kann nicht verstehen, dass so etwas angeblich nicht finanziert werden kann. Viele Pflege-Funktionäre fordern das wohl nicht ein. Sie müssen einige Wochen vor Ort Pflege selbst erlebt haben, um zu wissen, worüber sie reden.

Alle sollten mehr Eigenverantwortung und Zivilcourage an den Tag legen, damit die selbstverständlichen Grundrechte eingehalten werden. Es ist doch absurd, dass man als mutig gilt, wenn man bekannte Wahrheiten ausspricht. Alle politischen Aktionen bleiben nur Aktionismus, wenn wir vor Ort versagen. Wenn wir in einem Bündnis an der Basis zusammenhalten, könnte es nicht solche Probleme geben. Niemand ist gegen bessere Bezahlung für gute Pflegekräfte. Warum engagieren sich so wenig Prominente dafür? Meine Forderung: Wir müssen uns kümmern, wir dürfen die alten Menschen und deren pflegende Angehörige nicht im Stich lassen.

 

Danke für das Interview.

 

Mit Claus Fussek sprach die stv. HLS-Chefredakteurin Wega Wetzel.

 


Das Interview erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift “Humanes Leben Humanes Sterben” (HLS).

Fussek, Claus / Schober, Gottlob: Es ist genug! Auch alte Menschen haben Rechte, Knaur Verlag München 2013, ISBN 978–3–426–78644–4, 7,00 Euro