Der Irrtum von der "Rückkehr der Religionen"

HAMBURG. (hpd) Der Wiener Theologe Ulrich Körtner rüffelt die Evangelische Kirche Deutschland (EKD). Die neuesten Mitgliederzahlen straften die bislang so vehement beschworene Hoffnung auf eine “Wiederkehr der Religion” Lügen. Von einem “Megatrend Religion” könne erst recht keine Rede sein. Angesichts des Mitgliederschwunds müsse man verstärkt unter den Konfessionslosen missionieren.

Vor acht Jahren noch hatte der damalige EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber den deutschen Christen hoffnungsfrohe Worte mit auf den Weg gegeben. Zwar greife angesichts schrumpfender Einnahmen und Mitgliederzahlen “Sorge um die Zukunft der Kirche” um sich. Bei Fortschreiben der Zahlen müsse man bis zum Jahr 2030 mit dem Verlust eines Drittels der Mitglieder und der Hälfte der Mittel rechnen. Jedoch, mit “Kreativität, Aufbruchsstimmung und Auftragsorientierung” könne man den Negativtrend umkehren.

“Eine eigenständige Antwort auf solche Prognosen kann nur darin bestehen”, schrieb Huber dem Impulspapier “Kirche der Freiheit” 2006 ins Vorwort, “gegen den Trend wachsen zu wollen.” Umfragen hätten immerhin gezeigt, es werde “neu nach Gott gefragt”. Und um die Zukunft insgesamt in ein rosigeres Licht zu tauchen, hatte er herausgefunden: “Religiöse Themen ziehen hohe Aufmerksamkeit auf sich; Menschen fragen auch wieder nach der eigenen religiösen Identität, nach dem, was für sie selbst Halt und Zuversicht verbürgt.”

Brav hatten denn auch die Verfasser des 110-seitigen “Impulspapiers” für die “Perspektiven der EKD im 21. Jahrhundert” die aufrüttelnden Worte ihres Ratsvorsitzenden aufgegriffen und literarisch aufpoliert in “zwölf Leuchtfeuern” zum Aufbruch geblasen. “Der Chancenreichtum der aktuellen Situation liegt zum einen in einer gesellschaftlich günstigen Situation”, hatten sie resümiert, “und zum anderen in einer ermutigenden innerkirchlichen Lage.”

Zu ihrer blauäugigen Einschätzung hatten sich die Autoren nach eigenen Worten auch durch Zukunftsforscher verleiten lassen, die damals eine “Respiritualisierung als gesellschaftlichen Megatrend” erkannt haben wollten, sowie durch eine “Europäische Wertestudie” von 2002 mit dem Titel “Die europäische Seele”. Vermutlich waren die Autoren einschließlich Ratspräsident dabei Opfer einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung geworden.

Denn heute: des Bischofs Trostworte, die Kernthesen des Impulspapiers mit der Hoffnung auf eine “Rückkehr der Religion”, der von den Zukunftsforschern prognostizierte “Megatrend der Respiritualisierung” – alles falsch! Ein großer Irrtum, moniert der Wiener Theologe Ulrich Körtner.

Beispielbild

Weit entfernt davon, die christliche Religion grundsätzlich anzugehen, hatte Körtner doch den Anhängern des „neuen Atheismus“ im Alpenland vorgeworfen, sie seien eine Gefahr für die Freiheit. Doch jetzt, nach Sichtung der neuesten Ergebnisse der “5. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft” (KMU), meldet er sich im “Materialdienst (4/2014) der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen” kritisch zu Wort: Man müsse sich endgültig vom “Megatrend Religion” verabschieden. Die Wiederkehr der Religion sei eine Illusion. Anlass zur Hoffnung, die Kirche könne gegen den Trend wachsen, sei nicht gegeben. Körtner wörtlich: “Dieser Glaube stellt sich nun als Irrtum heraus.”

Tatsächlich lässt die Klarheit der Worte in der aktuellen KMU (Erhebungszeitraum 2012) auch keinen anderen Schluss zu. Denn dort heißt es in der Zusammenfassung unter anderem: Zehn Jahre nach der letzten KMU von 2002 zeigten die aktuellen Ergebnisse „im Grundsatz eine Verstärkung und Verdeutlichung schon in den vergangenen Untersuchungen wahrgenommener Tendenzen. Eine wie auch immer geartete Umkehr des Trends ist nicht zu erkennen: Die absolute Zahl der Kirchenmitglieder sinkt kontinuierlich … ohne dass eine der bekannten geistlichen Richtungen des Glaubens ein ‚Rezept‘ gegen den Mitglieder- und Bedeutungsverlust gefunden hat, falls es überhaupt eines gibt - diese Wahrnehmung sollte nicht beschönigt werden.“

Und ganz im Gegensatz zu Ratspräsident Huber noch 2006, gleichwohl recht spekulativ, kommen die Autoren zu dem Schluss: “Ein Wachsen gegen den Trend der Demografie, der Säkularisierung und der Deinstitutionalisierung dürfte ein kraftvolles geistliches Geschehen zur Voraussetzung haben.” (Welcher Art aber sollte ein solches “geistliches Geschehen” sein? Denkt man an ein neues Himmelfahrtswunder oder ähnliches?) Ganz nüchtern kommen die Autoren dann allerdings von selbst zu der Einsicht: “Ein solches außerordentliches Geschehen ist weder durch Geld noch durch Reformen zu initiieren oder sonst wie erzwingen.”

Für den Wiener Theologen Körtner sind solche Spekulationen Anlass zu einem scharfen Rüffel gegenüber den akademisch-theologischen Kollegen im Westen: “Allerdings haben nun auch jene Theologen Anlass zur Selbstkritik, die der EKD und ihren Verantwortlichen über Jahre hinweg den angeblichen Megatrend eingeredet haben. Offenbar gibt es auch an den Fakultäten eine ‘Religionstheologie’, die auf Selbsttäuschung beruht.” Man stelle sich an dieser Stelle nur vor, ein Vertreter der “neuen Atheisten” und Kirchenkritiker hätte sich ein solches Urteil erlaubt!

Im Übrigen müsse man einfach zur Kenntnis nehmen, fährt Körtner fort, es gebe “in unserer Gesellschaft einen verbreiteten und um sich greifenden Gewohnheitsatheismus, der sich nicht mehr länger leugnen lässt.” Die KMU-Zahlen ließen nur den Schluss zu, “dass sich diejenigen, die schon ohne religiöse Sozialisation aufgewachsen sind und in einem Milieu der verfestigten Konfessionslosigkeit leben, von der Kirche kaum noch erreichen lassen.”

Ganz abschreiben mag der Wiener Theologe indes diese Klientel nicht. Vielmehr empfiehlt er, sie zukünftig schärfer ins Visier zu nehmen. Die künftige Arbeit der Kirche dürfe sich “nicht auf die beschränken, die sich noch der Kirche verbunden fühlen.” Körtners Ratschlag: “Das Evangelium ist eben nicht nur den ‘religiösen’ Menschen, sondern auch den Religionslosen zu verkündigen.”
Auf den missionarischen Erfolg darf man gespannt sein.

Gegen Ende seiner Analyse beschwört der Wiener Theologe dann noch einmal den erkannten Ernst der Lage. Die fortschreitende Säkularisierung in unseren Breitengraden sei “keineswegs ein überholter Mythos”, sondern “harte Realität”. Und wörtlich: “In der modernen pluralistischen Gesellschaft findet sich das Christentum in einer Diasporasituation vor.” Solche Worte sind schon anrührend. Als befänden sich die vom deutschen Staat rechtlich und finanziell immer noch einzigartig unterstützten Kirchen quasi im babylonischen Exil.

Leider ist den Worten des Wiener Theologen nicht immer klar zu folgen. Etwa hier: “Öffentliche Theologie in evangelischer Prägung”, heißt es da, “begreift den Pluralismus moderner Gesellschaften, also auch den Pluralismus im heutigen Europa, nicht als Verhängnis, sondern als Frucht des Christentums.” Soll hier verstanden werden, das Christentum habe den modernen Pluralismus hervorgebracht? Wenn ja, käme das einer erstaunlichen Verkennung historischer Tatsachen gleich. War es doch in der Geschichte zumeist christliche Dogmatik, die mit Inquisition, Lehrverboten und Bücherverbrennung die Ausbreitung kultureller Vielfalt verhinderte. Bis in die heutige Zeit hinein versucht doch die Kirche - an vielen Stellen auch die evangelische - einen Pluralismus individueller Lebensführung und sexueller Selbstbestimmung zu beschneiden. Man denke nur an Stellungnahmen zu Präimplantationsdiagnostik, Abtreibung oder selbstbestimmtem Sterben.

Und ganz zum Schluss seines Beitrags lässt sich Körtner noch zu einer erstaunlichen Volte hinreißen: Die jetzt notwendige neue missionarische Theologie sei auch “als Absage an alle Versuche zu verstehen, mittels staatlicher Gewalt oder mithilfe des Rechts einer bestimmten Religion, ethischen Orientierung oder partikularen Gruppenmoral allgemeine gesellschaftliche Verbindlichkeit zu schaffen.” Das lässt aufhorchen, deuten sich da etwa neue Töne an? Meint Körtner gar, die Kirchen sollten sich künftig ihrer durch so genannte Kirchenstaatsverträge und Staatsleistungen zugesicherten Privilegien begeben? Die EKD sollte womöglich darauf verzichten, sich ihre Mitgliedsbeiträge weiterhin als Kirchensteuern vom deutschen Staat einziehen zu lassen?

Allein schon die Forderung wäre sensationell. Käme sie doch einem Schritt gleich hin zu der Einsicht, dass alle Religion zu Recht zwar den staatlichen Schutz verdient, aber letztlich schlicht und einfach Privatsache ist.