Wider die Baldrianisierung

BERLIN. Im tiefen Berliner Osten wohne ich, in Lichtenberg, in einer Platte, nahe am Tor nach Marzahn und Hellersdorf, die Straße – fast eine Autobahn

– führt direkt in diese beiden wohl religionsfernsten Gegenden der Welt, hier in der „Welthauptstadt des Atheismus“ (Peter L. Berger).

Noch nie in all diesen vielen Wohnjahren hat mich dort „Weltanschauliches“ anfassbar erreicht: Doch nun ein Poster an der Haustür, für einen Tag oder zwei, eine Einladung zu einer Lesung des Buches „Gott sei Dank“, verbunden mit dem Appell im Untertitel „Schluß mit der Schwatzgesellschaft“ und der Ankündigung, der fast achtzigjährige Autor setze sich mit Peter Hahne auseinander, der sich sein Leben ohne Gott nicht denken kann, und mit dessen Buch „Schluss mit lustig!“, welches das „Ende der Spaßgesellschaft“ fordert, um zu alten Werten, zu Gott besonders, zurückzukehren – bizarr: Hahne („Wertesucher und Gott-Rufer“, S.13) ist doch aber Teil der Maschine Spaßgesellschaft und ein Oberer zudem als Hauptstadtstudioleiter des ZDF. Kritisiert der Herr Hahne sich jetzt selbst? Nein. Das ist dem Oertel aufgefallen. Und da sich der Herr Hahne (aus Zeitgründen versteht sich) noch nicht mit Herrn Oertel treffen konnte, schrieb dieser ein Buch an Herrn Hahne, einem verehrten Angehörigen der Tätigkeitsgruppe der „Baldrianisierer“ (S.60).

Die Lesung findet am 4. Juni 2007, 17:00 Uhr, in der Bibliothek am Anton-Saefkow-Platz 14 statt, an einem der wenigen Orte, die noch immer nach einem Kommunisten heißen. Oertel ist auch am 25. Mai zu Gast in der MDR-Talkshow Riverboat, blickt in einer Lesung am 11. Juni in Wismar (bereits ausverkauft) auf die Welt und Heutiges und lässt sich einen Tag später in Stralsund über den Zustand unserer Gesllschaft aus.

Oertel ist schon früher viel in der Welt herum- und immer wieder nach Hause gekommen. Er ist berühmt – im Osten wohlgemerkt – für seinen mal feinen, mal derben Wortwitz und seine freie Redekunst. Nur Hermann Glaser ist besser in seinen Worterfindungen, jedenfalls von philosophischer Warte aus gesehen.

Der Oertel ist also im Osten ein berühmter Mann, nicht nur als Sportjournalist. Als solcher berichtete er von 17 (!) Olympischen Spielen, 17 Friedensfahrten (die „Tour de France“ des Ostens), acht Fußball-Weltmeisterschaften, 25 Eiskunstlauf-Europa- und Weltmeisterschaften und von zig anderen Sportereignissen. Vierzig Jahre schrieb er Kolumnen für die „Lausitzer Rundschau“, 25 Jahre für die „Berliner Zeitung“. Zudem war er Erfinder und Moderator zahlreicher Rundfunk- und Fernsehsendereihen. Bücher hat er auch zahlreiche verfasst – in der DDR und danach. So einer tourt gewöhnlich wöchentlich durch die Talkshows ... wenn er westsozialisiert ist; ist er aber nicht. Gott dem Zufall sei Dank (oder Fluch).

Doktor ist der Oertel übrigens auch und der Kulturwissenschaftler in mir vermag noch immer seine kluge Dissertation „Untersuchungen zu den für die Tätigkeit als sprechender Sportreporter im Rundfunk und Fernsehen der DDR notwendigen speziellen Tätigkeits-Qualitäten und Persönlichkeits-Eigenschaften“ (1982) zu schätzen, tapfer waren ihre Thesen allemal in dieser Zeit, und Teile davon sind immer noch verwendbar: Man findet Merkzeichen über Rhetorik und Sprechausbildung auch in „Gott sei Dank“.

In dem Buch ist viel von Gott die Rede, schon weil der Herr Hahne viel über ihn erzählt hat. Der Oertel ist einer von der Sorte Ungläubiger, die dem Hahne und anderen ihren Gott lassen, aber selber mit dem Wort „Gott“ auf eine unbekümmerte Weise umgehen, dass sich berufsmäßige Philosophen und Theologen vor theoretischer Verzweiflung erst die Haare raufen, um sich dann in diese zu kommen. Zum einen ärgert der Oertel den Hahne als Theologen, in dem er ihn immer wieder fragt, wie er als solcher dies und das sehen würde. Zum anderen ist der Oertel Atheist, Agnostiker zumindest, der nicht vergessen hat, warum man ihm mal den Gott versucht hat einzubläuen. Dann aber haben der Kriegseinsatz auf „Christenbefehl“ (S.34) und „Gott mit uns“ ihn eines Besseren belehrt. Er war dann nach dem Krieg einmal selbst Gott – als Schauspieler in Goethes „Faust“. Da hatte er schon gelernt, Arbeiter- und Armeleutekind, dass „Buchhalter“ keine Bücher machen.

Um zu erklären, wie man dies und das moralisch anders sehen könnte als Herr Hahne, bedarf der Oertel eines Höheren Wesens nicht, fragt aber beständig Christenmenschen, die als solche öffentlich sich zu erkennen geben, nach ihrer christlichen Ethik: Manager („Schwarzträger“: „Heute liquidieren sie eine Präservativfabrik, morgen sanieren sie ein Bibelunternehmen. Halleluja.“ S.23) und Politiker besonders („Regieren ... nach dem Ursystem: ’Haltet eure Stühle fest!’“, S.94) ... und die „Baldrianisierer“ in den Medien, die nicht mal richtiges Deutsch sprechen können, aber beklagen, dass andere nicht richtig deutsch sprechen.

Das ist überhaupt die Kernbotschaft in Oertels Erörterungen: Da gibt es öffentliche Äußerungen über Kinderkriegen und Familie oder sonst was Wichtigem. Da fragt man „...und Sie selbst“? Da kommt die Botschaft, das sei privat und „persönliche Lebensführung“. „Ja klar, mehr Kinder, mehr Erziehungsqualität in Haus und Schulen – mir selbst jedoch piepegal. ... Na denn! Ihr lustig-lustig-lustig Draufloslebende, kritisiert mit uns, macht aber selbst lustig weiter! Ja, Leben und Vorleben, das besonders, ist nicht einfach.“ (S.122/23)

Da ist dann schon bedenkenswert, welche Beispiele, besonders bei Sportlerbiografien, der Oertel findet, bei Schumacher und Schmeling, aber besonders bei ehemaligen Ost-Sport-Helden (S.51ff), den, wie alle Ossis, generell ursprünglich chancenlosen, weil „verzwergten“ Menschen. Oertel nennt den Namen nicht, den er hier zitiert (S.21), der uns so im wieder vereinigten Deutschland begrüßt hat. Es war Arnulf Baring in „Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler“ (Berlin 1991, S.59).

Man wird doch mal nach den „alten Werten“ in der DDR fragen dürfen, wenn Lebensläufe, die ihnen folgend geführt wurden, lebenswert und erfolgreich waren und sind, davor und danach. Viele Grüße, Herr Baring, von einem „hirnlosen Rädchen“. Ich verdächtige Sie mal glatt der „Westalgie“.

Oertel liefert Alltagsphilosophie vom Feinsten. Das ist nicht jedermanns Geschmack. Aber sie sind im säkularen Spektrum bright zu finden, wenn Werte dort gesucht werden, wo Mann und Frau sie leben. Da wird sich mancher von uns freidenkerischen Humanisten über die „Einfachheit“ mokieren, wie sie Oertel vorträgt.

Aber er füllt die Säle und er lässt nichts aus, was an Wertdebatten derzeit die Medien füllt: der Alkohol, Ackermanns Handel, die neuen Tetzel, Fußballmillionäre, Doping, Tabakrauchen, „Wertschätzungsgefälle“, Schummler-TV, zwei der Zehn Gebote, Pisa, Bolidenfahren im Kreis, Frauen zu wenig, aber als „Engel“, Brecht und Theophrast, Heimat, am Ende Epikur (als „Lebensberuhiger“), Sport sowieso und Moralapostel: „Die Klugscheißer sind fortwährend unter uns ...“ (S.113).

Vielleicht war es der Hang des Verlages zur Aktualität, der ein besseres Lektorat verhindert hat. So finden sich vier ärgerliche Fehler. Aber: Bei denen kann man sich wiederum fragen, ob sie nicht Sinn machen: „Albannien“ (S.42), „Wergbegleiter“ (S.59), „beadauerlich“ (S.86), besonders wenn aus der Bischöfin Maria Jepsen, die nicht nur die „Verarmung“ kritisiert, sondern auch die „Verreichung“, Frau Jesper wird (S.123/24).

Am Schluss wird sich Oertel leider untreu, ausgerechnet an der Stelle zur Armut. Zwar schreibt er: „Ich bin so dumm anzunehmen, dafür sind hiesige Menschen verantwortlich, ganz Hiesige und Heutige, die Macht besitzen und in die Kirche gehen, beten und ...“. Doch dann lobt er das „Gemeinsame Wort“ über „Demokratie braucht Tugenden“ beider großer Kirchen (S.142), weil diese Politiker und Manager kritisieren. Er hinterfragt nicht, aus welchem Hang zur Eintracht auch immer, warum sich die Herren selbst ausgenommen haben aus ihrer Adressatenliste.

Am Ende etwas Persönliches: „Unser Täve“ war und ist „Unser Weltmeister“, lieber Heinz Florian Oertel. Die beiden Bücher sind zwar nicht von Ihnen, sondern von Klaus Ullrich, waren aber meine erste Fachlektüre als Schulkind – übrigens nach Lord Russel of Liverpools „Geißel der Menschheit“ (1955): Das zeigt, wie auch Ihr Buch an vielen Stellen, gar seltsam sind die Wege der Weltanschauungsbildung.

Horst Groschopp