Die Opferung der Vernunft

von Sam Harris.

Die Menschheit begeistert sich schon lange für Blutopfer.

Tatsächlich war es noch nie ungewöhnlich

, dass ein Kind in diese Welt geboren wurde, nur um geduldig und liebevoll von religiösen Spinnern aufgezogen zu werden, die glauben, dass die beste Methode, die Sonne auf ihrem Kurs zu halten oder eine reiche Ernte zu sichern, darin besteht, es sanft an die Hand zu nehmen, es auf ein Feld oder auf den Gipfel eines Berges zu führen und es als Opfergabe für einen unsichtbaren (und beinahe sicher fiktiven) Gott zu vergraben, zu schlachten oder lebendig zu verbrennen.

In vielen antiken Kulturen war es so, dass sich, immer wenn ein Edelmann starb, andere Männer und Frauen bereitwillig lebendig beerdigen ließen, um im Nachleben als Bedienstete zur Verfügung zu stehen. Im antiken Rom wurden manchmal Kinder geschlachtet, damit man die Zukunft in ihren Eingeweiden lesen konnte. Frauen der Dayak-Völker von Borneo hätten sich einen Verehrer nicht einmal angesehen, wenn er kein Netz voller menschlicher Köpfe als Liebesopfer darbrachte. Irgendein fijianisches Wunderkind dachte sich ein mächtiges Sakrament namens „Vakatoga" aus, das es erforderte, einem Opfer die Gliedmaßen abzuschneiden und sie zu essen, während es zusieht. Unter den Irokesen war es üblich, Gefangene von anderen Stämmen oftmals noch viele Jahre lang am Leben zu lassen. Es wurde ihnen sogar erlaubt, zu heiraten, während sie die ganze Zeit über dazu verdammt waren, eines Tages lebendig enthäutet und dem Gott des Krieges als Opfer dargebracht zu werden, wobei die Kindern, die sie in Gefangenschaft erzeugten, im selben Ritual entsorgt wurden. Unzählige afrikanische Stämme haben eine lange Geschichte, was die Ermordung von Menschen betrifft, um sie zwecks eines Einweg-Dialogs zu ihren Ahnen zu schicken, oder um aus ihren Körperteilen magische Zauberutensilien zu basteln. Rituelle Morde dieser Art werden in vielen afrikanischen Gesellschaften bis auf den heutigen Tag betrieben.

Es ist entscheidend, sich klar zu machen, dass solche unglaublich dämlichen Missbräuche von menschlichem Leben stets ausdrücklich religiöser Natur waren. Sie sind das Produkt dessen, was bestimmte menschliche Wesen glauben, von unsichtbaren Göttern und Göttinnen zu wissen, und dem, was sie offenkundig nicht wissen über Biologie, Meteorologie, Medizin, Physik und einem Dutzend anderer Wissenschaften, die mehr als nur ein wenig über die Ereignisse der Welt zu sagen haben, die sie betreffen.

Aufgrund dieser verabscheuungswürdigen Geschichte von religiöser Grausamkeit und wissenschaftlicher Ignoranz steht das Christentum nun da als eine absurde Apotheose, die sich nicht über sich selbst im Klaren ist. Wie Johannes der Täufer angeblich gesagt haben soll, als er Jesus das erste Mal sah: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt." (Johannes 1:29). Für die meisten Christen gilt diese bizarre Meinung noch immer und sie bleibt das Kernstück ihres Glaubens. Das Christentum lässt sich in der Forderung zusammenfassen, dass wir einen Gott lieben und uns von ihm lieben lassen sollen, der die Erfindung von Sündenböcken genauso befürwortet wie Folter und den Mord eines Mannes - seines eigenen Sohnes --, als Ausgleich für das Fehlverhalten und die Gedankenverbrechen aller anderen.

Lasst uns die gute Nachricht überbringen: Wir leben in einem Kosmos, dessen Gewaltigkeit wir nicht einmal in unseren Gedanken annähernd erfassen können, auf einem Planeten, der von Kreaturen wimmelt, von denen wir gerade erst begonnen haben, sie zu verstehen, aber die ganze Angelegenheit wurde eigentlich schon vor über zwanzig Jahrhunderten zu ihrer glorreichen Erfüllung gebracht, nachdem eine Primatenspezies (unsere eigene) von den Bäumen kletterte, die Landwirtschaft und eiserne Werkzeuge erfand, die Möglichkeit (dunkel, wie durch eine Scheibe) erblickte, ihre Exkremente aus ihrer Nahrung rauszuhalten, und dann einen ihrer Art dazu auserwählte, böse verprügelt und an ein Kreuz genagelt zu werden.

Die Behauptung, dass Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist und sein Tod die erfolgreiche Versöhnung eines „liebenden" Gottes bedeutet, ist ein unmittelbares und unverhülltes Erbe des Schuld von sich auf andere weisenden Barbarentums, das verwirrte Menschen seit Anbeginn der Geschichte plagte. In einem modernen Kontext betrachtet, handelt es sich um eine so verkommene und fantastische Idee, dass es schwer ist, herauszufinden, an welcher Stelle man anfangen sollte, sie zu kritisieren. Fügen Sie der erbärmlichen Mythologie, die sich um den Tod eines Mannes durch Folter dreht - die Passion Christi - den symbolischen Kannibalismus der Eucharistie hinzu. Sagte ich „symbolisch"? Es tut mir Leid, aber laut dem Vatikan ist er mit absoluter Sicherheit nicht symbolisch. Tatsächlich besteht die Meinung des Rats von Trient weiterhin fort:

„Ich erkläre weiterhin, dass in der Messe Gott im Namen der Lebenden und der Toten ein wahres, angemessenes und versöhnliches Opfer dargebracht wird, und dass der Körper und das Blut zusammen mit der Seele und der Göttlichkeit unseres Herrn Jesus Christus wahrhaftig, wirklich und wesentlich anwesend ist im heiligsten Sakrament der Eucharistie, und dass eine Veränderung der ganzen Substanz des Brotes in den Körper stattfindet, und der ganzen Substanz des Weines in Blut; und diese Veränderung nennt die katholische Kirche Transubstantiation. Ich erkläre ferner, dass der ganze und vollständige Christus und ein wahres Sakrament durch jedes Exemplar übertragen wird."

 

Natürlich haben Katholiken viel anstrengende und nicht überzeugende Theologie auf diesem Gebiet betrieben, indem sie versuchten zu verstehen, wie sie tatsächlich den Körper Jesu essen können, und nicht nur bloße, mit Metaphern umhüllte Kekse, und wie sie tatsächlich sein Blut trinken können, ohne tatsächlich ein Kult durchgeknallter Kannibalen zu sein. Wie dem auch sei, es sollte genügen darauf hinzuweisen, dass ein Weltbild, in dem „versöhnliche Opfer im Namen der Lebenden und der Toten" beliebt sind, eher schwierig zu verteidigen ist im Jahre 2007. Dies hat jedoch ansonsten intelligente und wohlmeinende Menschen nicht davon abgehalten, es zu verteidigen.

Und nun erfahren wir, dass sogar Mutter Teresa, das gefeiertste Ausstellungsstück dieses Dogmatismus in einem Jahrhundert, Zweifel an der ganzen Geschichte hatte - an der Gegenwart Christi in der Eucharistiefeier, an der Existenz des Himmels, und sogar an der Existenz Gottes:

„Herr, mein Gott, wer bin ich dass Du mich verlassen solltest? Das Kind deiner Liebe - und nun wurde ich dein am meisten Verhasstes - das Verhasste - Das du als ungewollt weggeworfen hast - ungeliebt. Ich rufe, ich klammere mich, ich will - und es ist Keiner da, um zu antworten - Keiner, an den ich mich klammern kann - nein, Keiner. -- Alleine ... Wo ist mein Glaube - sogar tief innen drin ist nichts, außer Leere & Dunkelheit - Mein Gott - wie schmerzvoll ist dieser unbekannte Schmerz - Ich habe keinen Glauben - Ich wage es nicht, die Worte auszusprechen & die Gedanken, die sich in meinem Herzen drängen -- & mir unendliche Marter erleiden lassen.

So viele unbeantwortete Fragen leben in mir verängstigt sie zu enthüllen - aufgrund der Gotteslästerung - Falls es Gott gibt - bitte vergib mir - Wenn ich versuche meine Gedanken an den Himmel zu richten - da ist so eine verurteilende Leere, dass eben diese Gedanken wie scharfe Messer zurückkehren & meine eigenen Seele verletzen. -- Man sagt mir, dass Gott mich liebt - und doch ist die Wirklichkeit der Dunkelheit & Kälte & Leere so groß, dass nichts meine Seele berührt. Habe ich einen Fehler begangen, als ich mich blind dem Ruf des Herzen Jesu ergab?

-- an Jesu addressiert, auf Anraten eines Beichtvaters, ohne Datum"

 

Die jüngst veröffentlichen Briefe Teresas enthüllen einen Verstand, der von Zweifel zerrissen ist (wie es auch sein sollte). Sie enthüllen auch eine Frau, die sicherlich unter gewöhnlicher Depression litt, obwohl selbst säkulare Kommentatoren vor kurzem damit anfingen, diesen Fakt höflich in die Farben von Heiligen und Märtyrern zu kleiden. Tereses Antwort auf ihre eigene Verwirrung und Heuchelei (ihre Bezeichnung) enthüllt, wie sehr der religiöse Glaube dem Treibsand ähneln kann. Ihre Zweifel an Gottes Existenz wurden von ihrem Beichtvater als Zeichen dafür interpretiert, dass sie Christus Qualen am Kreuz teilte; diese Begeisterung für ihren wankenden Glauben soll Teresa ermöglicht haben „die Dunkelheit zu lieben", die sie in Gottes offenkundiger Abwesenheit erlebte. Dies ist der Genius des Nicht-Widerlegbaren. Das selbe Prinzip ist bei ihren Mitkatholiken am Werk: Teresas Zweifel haben ihren Status in den Augen der Kirche nur noch erhöht, weil diese als weiterer Beleg für Gottes Güte interpretiert wurden.

Fragen Sie sich selbst: Wenn sogar die Zweifel eines Experten eine Doktrin bestätigen sollen, was um alles in der Welt könnte sie widerlegen?

 

Übersetzung: Andreas Müller

Original: Newsweek On Faith, Washington Post. 29. August 2007

 

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