Grenzen der Toleranz?

HAMBURG. (hpd) Ist Toleranz ein "Wert an sich" oder ein bloß relativer Begriff? Ist derjenige, der Intoleranz toleriert, tatsächlich tolerant?

Wo liegen die Grenzen der Toleranz? Und ist Toleranz alleine vielleicht gar nicht ausreichend? Müssen wir uns darum bemühen, sämtliche Formen des Andersseins nicht bloß zu tolerieren, sondern zu akzeptieren?

 

Michael Schmidt-Salomon referierte am Mittwochabend (24.10.) auf Einladung des Hamburger Landesverbandes der Humanistischen Union im Saal des Haus 73 im Schanzenviertel.

Die Fragen hatten auch auf den Plakaten gestanden und so fand er ein gespannt zuhörendes Publikum vor. Er begann mit wesentlichen Klärungen: Toleranz, Akzeptanz, Ignoranz.

 

„Damit wir uns nicht falsch verstehen..."

Toleranz sei eine Last. „Wer tolerant ist, der nimmt es hin, dass andere Menschen in unangenehmer Weise anders denken, handeln, empfinden. Im politischen Kontext zielt der Begriff der Toleranz auf die Gewährleistung von Freiheitsräumen für Individuen oder Gruppen, deren Glaubens- und Lebensweisen vom etablierten religiösen, weltanschaulichen oder gesellschaftlichen System abweichen."

Insofern sei dieses Toleranzgebot, das auch aufgrund der bitteren Erfahrungen der Glaubenskriege formuliert wurde, „eine der hervorragendsten Errungenschaften der Moderne, die es zu verteidigen gilt" - allerdings mit der klaren Einschränkung, dass es nicht bedeute, einer grenzenlosen, unbedingten Toleranz das Wort zu reden.

Akzeptanz sei etwas völlig anderes als Toleranz - auch wenn das eine mit dem anderen häufig verwechselt werde. Was man akzeptiere, das toleriere man nicht nur, man sei mit ihm einverstanden - auch wenn man es für sein eigenes Leben nicht anwenden möchte.

Der Referent zitierte dann einerseits Goethe: „Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen." Andererseits gäbe es allerdings gute Gründe dafür, dass wir mit bestimmten Formen des Andersdenkens und Andershandelns nicht einverstanden seien, dass wie sie nicht akzeptieren, sondern nur dulden können.

Toleranz sei ein wichtiger Wert innerhalb pluraler Gesellschaften. Diese Toleranz müsse gesellschaftlichen Gruppierungen, sofern sie nicht selbst dazu in der Lage sind, abverlangt werden. Akzeptanz hingegen kann man nicht einfordern, ohne die Grundlagen der pluralen Gesellschaft selbst zu untergraben. Der produktive Wettstreit der Ideen in unserer Gesellschaft entstehe ja gerade aus der Differenz von Toleranz und Akzeptanz.

Dass Vorschläge zur Förderung der Toleranz häufig kaum positiv aufgenommen werden, läge nicht zuletzt in einer Denkhaltung begründet, die ebenfalls leicht mit Toleranz verwechselt werden kann: der Ignoranz. d.h. Unwissenheit, Dummheit.

Insofern sei Ignoranz eine wesentliche Voraussetzung für falsche bzw. repressive Toleranz. Manch einer, der tolerant erschiene, sei in Wirklichkeit nur ignorant, bemerke also gar nicht die Lasten, die er vielleicht zu erdulden hätte oder gegen die er sich möglicherweise sogar wehren müsste. „Wer sich beispielsweise nicht darum kümmert, was innerhalb islamistischen Gruppierungen geschieht, der neigt weit eher dazu, sich in repressiver Weise tolerant zu äußern („Leben und Leben lassen: Lasst die Leute doch machen, was sie wollen!"), als diejenigen, die einen guten Einblick in die Szene haben."

Auf keinen Fall dürfe man es sich zu leicht machen und „Toleranz für jeden und alles" fordern - Toleranz sei ein bloß relativer Begriff. Er werde komplett bedeutungslos, wenn man ihn absolut setze.

In Übertragung der von Ingenieuren definierten Toleranz als „zulässige Abweichung vom Nennmaß" gilt auch im politisch-weltanschaulichen Fragen, dass Toleranz nur über Grenzen definiert werden könne.

„Wenn wir also bewerten müssen, ob soziale Gruppierungen, Verhaltensweisen, Weltanschauungen tolerabel sind oder nicht, so müssen wir zunächst wissen, wo die Grenzwerte liegen, die nicht überschritten werden können, ohne die Funktionalität des Gesamtsystems zu gefährden. Erst danach können wir überprüfen, ob der Ist-Wert einer Gruppierung, Verhaltensweise oder Weltanschauung innerhalb dieser Grenzwerte liegt, d.h. tolerabel ist, oder eben nicht."

Die große Frage freilich sei, was Norm- und Grenzwerte auf gesellschaftlicher Ebene bedeuten würden. Ist es überhaupt zulässig, derartige Werte für die Gesellschaft zu definieren? Und wer definiert Grenzwerte?

Die notwendige Beschränkung der weltanschaulichen Neutralität des Staates

Multikulti-Illusionen hätten lange Zeit den Blick dafür getrübt, dass sich in den westlichen Gesellschaft religiöse Parallelgesellschaften herausgebildet haben, die es darauf anlegen, selbst die fundamentalsten rechtstaatlichen Prinzipien zu negieren. Als Beispiele nannte Michael Schmidt-Salomon den dogmatischen, evangelikalen Puritanismus russlanddeutscher Aussiedler oder die islamistischen Abschottungstendenzen innerhalb der religiösen Migrantenszene mit türkischem Hintergrund.

Im der Lobpreisung der „Abenteuer kultureller Vielfalt" - der enormen Bereicherung durch das „Fremde" - sei schlicht übersehen worden, dass man mit der türkischen Community nicht nur Kebab, Bauchtanz, orientalische Musik, Kunst und Lyrik importierte, sondern auch die ideologischen Keimlinge einer Religion, die bisher weit weniger als das europäische Christentum gezwungen war, „durch die Dompteurschule der Aufklärung" zu gehen. Wenn man in Deutschland heute vor dem Scherbenhaufen einer gescheiterten Integrationspolitik stehe, dann nicht zuletzt deshalb, weil die demokratiefeindlichen Potentiale der Religionen maßlos unterschätzt worden seien.

Sämtliche Studien, die sich mit dem Thema eingehender beschäftigten, hätten gezeigt, dass die optimistische Erwartung, dass sich die Menschen gleichsam automatisch zu Demokraten entwickeln würden, wenn man ihnen rechtsstaatlich garantierte Grundrechte einräumt, hoffnungslos naiv waren. Es sei an der Zeit – und damit kam Schmidt-Salomon auf den Kern seines Vortrages –, aus dieser Erkenntnis die richtigen politischen Schlüsse zu ziehen.

Es wäre ein Fehler, würde man die in der deutschen Verfassung verankerte Forderung nach einer weltanschaulichen Neutralität des Staates als Verpflichtung zu staatlicher Wertindifferenz deuten. Das Gemeinwesen der Bürger beruhe auf klar benennbaren Verfassungswerten, die als Minimalkonsens das Zusammenleben der Menschen regeln sollen (den Grundrechten, der Gewaltenteilung, der richterlichen Unabhängigkeit, dem Sozialstaatsprinzip, dem Schutz für Verfolgte usw.). Deshalb werde das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates (d. h. seine Verpflichtung zur Gleichbehandlung religiös-weltanschaulicher Gruppen) spätestens dort aufgehoben, wo religiös-weltanschauliche Gruppierungen im Widerspruch zu den ethischen Grundanforderungen der Verfassung stehen.

Lehrpläne müssen wissenschaftlichen Standards entsprechen

Neben dieser ethischen Begrenzung der Weltanschauungsneutralität ist (vor allem) im Bildungsbereich ein weiterer Aspekt zu beachten, der zwar in der Debatte regelmäßig übersehen wird, in der Praxis aber von großer Bedeutung ist: Die Lernziele und Lehrpläne der Schulen werden nicht nur vom Ethos der Verfassung beeinflusst, sondern auch vom Forschungsstand der jeweiligen Fachdisziplinen. Lehrpläne, Schulbücher etc. müssen aktuellen wissenschaftlichen Standards genügen. Aussagen, die logischer oder empirischer Überprüfung nicht standhalten können, hätten im Curriculum der öffentlichen Schulen nichts verloren. Nur deshalb könne ein Kreationist nicht einklagen, dass die Schöpfungslehre im Biologieunterricht behandelt werden solle.

Selbstverständlich würden sich die Länder, die für Bildung hauptsächlich verantwortlich sind, keineswegs „weltanschaulich neutral" verhalten, wenn sie die Evolutionstheorie als ernst zu nehmenden Ansatz privilegieren und kreationistische Theorien ausblenden. Würden sie aber hinreichend widerlegte Ansichten nur aus dem Grund in den Lehrplan aufnehmen, weil bestimmte Gruppen dies ansonsten als „Diskriminierung" betrachten würden, so hätte dies eine schwerwiegende Aushöhlung des Bildungsbegriffs zur Folge. Die unkritische Vermittlung von Behauptungen, die erwiesenermaßen falsch sind, ist nämlich gerade das Gegenteil von Bildung, ist „Verbildung" - auch wenn bestimmte Gruppen sich durch die fehlende Berücksichtigung ihrer weltanschaulichen Irrtümer benachteiligt fühlen mögen.

Zentrales Verfassungsgut

Zwar sei die „weltanschauliche Neutralität" des Staates ein zentrales Verfassungsgut, da nur ein Staat, der seinen Bürgern nicht in umfassendem Sinne vorschreibe, was sie zu denken oder zu glauben haben, bürgerliche Freiheiten gewährleisten könne. „Und doch ist das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates über weite Strecken Fiktion. Die weltanschauliche Neutralität sei nämlich notwendigerweise zweifach beschränkt:

  • erstens durch die ethischen Prinzipien der Verfassung (wenn eine religiöse Gruppierung gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, z. B. Zwangsheirat, oder aber gegen den Schutz der Tierwelt verstößt, kann und darf der Staat sich dazu nicht neutral verhalten);
  • zweitens durch die Verpflichtung des Staates und der Länder zur Förderung seriöser Bildung, die sich nach soliden wissenschaftlichen Wahrheitskriterien richten muss und nicht nach den Partikularinteressen bestimmter religiös-weltanschaulicher Gruppierungen."

Das heißt: „Weltanschaulich neutral" könne sich der Staat nur dort verhalten, wo weder die humanistischen, auf den Menschenrechten beruhenden ethischen Prinzipien des Grundgesetzes noch die Seriosität des Bildungsauftrags auf dem Spiel stehen.

Grenzen der Toleranz

Ein weit schwerwiegenderes Problem entstehe nun, wenn Personen oder Gruppierungen die Grenzwerte einer aufklärerisch-humanistischen Streitkultur überschreiten und somit das fruchtbare Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte gefährden würden. Die Grenzen der Toleranz seien spätestens dann überschritten, wenn Eltern ihre Kinder vom Schulunterricht abmelden, um sie kreationistisch zu indoktrinieren, wenn Rechtsextremisten ihre Umgebung terrorisieren, um „ausländerfreie Zonen" zu etablieren, wenn Islamisten Abtrünnige mit Todesdrohungen belegen, „Ehrenmorde" legitimieren und öffentlich zu Gewalt aufrufen oder gar selbst Gewalttaten begehen, um ihrem Wahn zum gesellschaftlichen Durchbruch zu verhelfen. Wer Derartiges toleriere, begehe Verrat an den Prinzipien der Aufklärung.

Schmidt-Salomon betonte: „Es gibt keine allgemeine Richtschnur für den Umgang mit inakzeptablen oder gar nicht-tolerierbaren Haltungen. Man muss sich schon jedes Problem und jeden einzelnen Problemlösungsversuch im Detail anschauen, um angemessen urteilen zu können. Bei all dem geht es allerdings nicht nur um eine subversive Stärkung des Rechts auf individuelle Selbstbestimmung, sondern letztlich auch um den Erhalt des Projekts einer offenen Gesellschaft. Wir sollten nicht so ignorant sein, weiterhin im Sinne der Säkularisierungshypothese, davon auszugehen, dass die Religionen absterben oder immer aufgeklärtere Züge annehmen würden. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass gerade die fundamentalistischen Varianten des religiösen Glaubens zunehmend Attraktivität entfalten."

Unbequeme Grenzziehungen und schmale Grate

Eine repressive Toleranz nach kulturrelativistischem Gusto („Lasst die Leute doch denken oder handeln, wie sie wollen, solange sie mich damit nicht stören!") würde auf Dauer fatale Folgen haben. Wer Bedingungen schaffen wolle, die sich nachhaltig günstig auf die Verbreitung aufgeklärten Denkens auswirken, der dürfe sich nicht scheuen, unbequeme Grenzziehungen vorzunehmen. Der Grat, den man dabei gehe, ist bekanntlich äußerst schmal: Einerseits könne und dürfe ein von liberalen Grundsätzen ausgehender Staat seinen Bürgern nicht vorschreiben, was sie zu denken haben, andererseits sei es für den Erhalt der offenen Gesellschaft dringend erforderlich, dass sich kulturelle und politische Bestrebungen, die letztlich auf eine Abschaffung der Errungenschaften der Aufklärung hinauslaufen, im gesellschaftlichen Spiel der Kräfte nicht durchsetzen können.

Der Vortrag schloss mit einem Zitat von Karl Popper: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu ignorieren." Dies gelte - so Schmidt-Salomon - heute vielleicht in noch stärkerem Maße als je zuvor.

In der Diskussion

In der anschließenden Diskussion - die von einer generellen Zustimmung getragen wurde - wurde vor allem die Fragen behandelt, wer oder wie Kriterien entwickelt werden könnten. Neben der Überraschung des Referenten, dass er selber - mit einem libertären Hintergrund -, für ein stärkeres Eingreifen des Staates plädiere, gab es ein Beharren, dass der Staat sich in diesen Fragen zurückhalten solle - die Zivilcourage sei der Weg. Das fand jedoch auch Widerspruch, da dieses wünschenswerte Verhalten der Bürger zu oft in den Belastungen des Alltags inaktiv bleibe. Wo liegt also der „dritte Weg" zwischen einem übermächtigen Staat und einer nicht realisierten Zivilcourage?

Hinsichtlich vieler Gedanken und Fragen, die er den Zuhörern übermittelt hatte, war es ein bemerkenswerter Vortrag – und Zuschauer fragten, ob er auch in gedruckter Form vorliegen werde.

CF.