Vor 75 Jahren...

BERLIN. (hpd) Vor 75 Jahren, am 25. Juli 1933, wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Reichsgesetzblatt verkündet. Im Namen

der "Volksgesundheit" wurden bis zu. 400.000 Menschen, Erbgeschädigte, „Asoziale", Alkoholiker und andere Süchtige, vor allem aber Behinderte, sterilisiert, also der Möglichkeit zur Zeugung von Kindern beraubt.

 

Die deutschen Bischöfe waren empört und legten Protest gegen die Maßnahmen der Nationalsozialisten ein. Doch die Sterilisationen stießen bei ihnen nicht etwa auf Widerstand, weil sie eine Körperverletzung darstellten, (zehntausende Behinderte erlitten schwere Verletzungen, ca. 6.000 starben an den Folgen) sondern weil sich den Behinderten nun die Möglichkeit zum unbeschwerten Sex, ganz ohne die Sorge um unerwünschten Nachwuchs, eröffnete - in den Augen der katholischen Kirche eine schwere Sünde. Die Bischöfe formulierten dazu folgenden Gedanken: „Die Vertreter des Episkopats machten [...] darauf aufmerksam, daß mit der Durchführung des Gesetzes für die private und öffentliche Sittlichkeit große Gefahren sich ergeben; denn die sterilisierten Männer und Frauen können sich nun ihrem Geschlechtsleben hemmungslos überlassen, da ja aus dem Verkehr keine Nachkommen entstehen. Von Seiten der Regierung wurden hier Schutzmaßnahmen [!] zugesagt."

„Verhinderung sexueller Exzesse... durch operativen Eingriff"

Der Regensburger Oberhirte erklärte: „Es gibt beispielsweise in Anstalten geistig, körperlich unmoralisch abnorme und kranke Menschen, daß die sexuellen Exzesse, die bei ihnen etwas Alltägliches sind, zu dem Schmutzigsten und Schrecklichsten gehören, was man sich denken kann. Und hier gibt es faktisch keine andere Möglichkeit der Verhinderung als einen operativen Eingriff."

Diesen Hirtenworten folgt ebenfalls der Deutsche Caritasbund. In seinen Vorschlägen „Zur Neugestaltung des deutschen Strafrechts" hieß es 1934: „Es mag sein, daß man durch eine Sterilisation erreicht, daß die Fortpflanzung gewisser minderwertiger Erbstämme ausgeschaltet wird. Aber ebenso sicher ist, daß jeder Sterilisierte in seiner hemmungslosen und hemmungslos gemachten Geschlechtlichkeit eine Quelle ansteckender Krankheiten bilden kann und häufig bilden wird."

„Schädlinge der Volksgemeinschaft"

Kardinal Faulhaber offerierte Hitler seine katholisch-humane Alternative zu Sterilisation - das Wegsperren der Behinderten: „Heute fällt die Rücksicht auf die Sozialdemokratie weg, und da der Staat für die Schutzhäftlinge eigene Lager eingerichtet hat, kann er es ebenso gut für diese Schädlinge der Volksgemeinschaft, die er durch Sterilisation unschädlich machen will."

Faulhaber hatte in einem Brief an einen untergebenen Geistlichen erklärt, dass man gegen die Boykotte jüdischer Geschäfte im April 1933 nicht protestieren solle, um sich in Bezug auf die Sterilisationsfrage gegenüber der Regierung einen Handlungsspielraum zu erkaufen.

Aus diesen Überlegungen folgte für die Bischöfe die Konsequenz, dass man den Sterilisierten das Sakrament der Ehe verweigern sollte. Dies geschah dann auch, jedoch nur für kurze Zeit. Als sich die Kirche von der Laienschaft die Frage gefallen lassen musste, wie ernst ihnen das Mitleid mit den Behinderten angesichts einer solchen Haltung sein könne, erlaubte man den Sterilisierten die Hochzeit wieder.

„Aktion T4" - Von den Sterilisierungen zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens"

Es liegt auf der Hand, dass ein derart verzerrtes Bild den Blick der Bischöfe auf das Leid der Behinderten enorm erschwerte. Den nach 1933 ergriffenen Maßnahmen, die sukzessive die Lebensbedingungen der Sterilisierten erschwerten, begegneten die Bischöfe nur ungenügend. Ein Umdenken fand erst im Jahr 1940 statt, als im Rahmen der Aktion T4, unter dem Vorwand der Volkshygiene, „lebensunwertes Leben" ausgemerzt werden sollte.

In mehreren Anstalten im Dritten Reich wurden zwischen Frühjahr 1940 und Sommer 1941 ca. 70.000 Behinderte mit Autoabgasen vergiftet. Die Morde wurden von den Bischöfen als Verletzung christlicher Prinzipien erkannt, als sie über das Ausmaß der Euthanasieaktion erfuhren. Es war ausgerechnet Conrad Gröber, Erzbischof von Freiburg, der wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus im Volksmund nur „brauner Conrad" genannt wurde, der zuerst Protest einlegte. Gegenüber dem badischen Innenminister Pflaumer äußerte er sein Missfallen. In den Folgemonaten versuchte Conrad Gröber eine einheitliche Front unter den Kirchenfürsten gegen die Behindertenmorde aufzubauen.

Alles... aber bloß nicht öffentlich als illoyal erscheinen

Doch die deutschen Bischöfe befanden sich erneut in einem Dilemma. In einem ersten Umdenkprozess mussten die Behinderten von Tätern zu Opfern werden. In einem zweiten Prozess musste das Verhältnis zwischen Kirche und Staat neu definiert werden. Die Proteste, die die Bischöfe formulierten, waren Eingaben bei den dafür zuständigen Behörden, bis hinauf zur Reichskanzlei. Diese waren zwar inhaltlich deutlich, doch da sie nicht öffentlich erfolgten, war es für die Staatsführung ein leichtes, sie zu ignorieren.

Ein Protest, der sich an das ganze deutsche Volk richtete, erschien undenkbar. Einerseits wirkten die Erfahrungen des Kulturkampfes nach, in denen die katholische Kirche sich Bismarck entgegenstellte und im Gegenzug als „Reichsfeind" gebrandmarkt wurde. Dieses Trauma, als „unpatriotisch" zu gelten, beeinflusste auch die Bischöfe im Dritten Reich, die der Regierung durch einen öffentlichen Protest nicht „in den Rücken fallen" und als illoyal gelten wollten.

Erst 1941 öffentliche Kritik

Und so gingen die Morde noch ca. ein Jahr nach der gemeinsamen Stellungnahme der Bischöfe gegen die Euthanasieaktionen unvermindert fort, bis sich der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen in seiner berühmten gewordenen Predigt vom 3. August 1941 eindeutig Partei für die Behinderten ergriff. Er erklärte genau, was es mit den unerklärlichen Todesfällen auf sich hatte, er nannte die Morde beim Namen und er zeigte die zynische Kosten-Nutzen-Rechnung der Nazis auf, in denen ein Menschenleben nicht viel galt. Dieser Protest erklang nun überall in Deutschland, teils auch in den besetzten Niederlanden und sorgte für Aufruhr unter der Bevölkerung. Hitler sah sich gezwungen die Aktion T4 zu beenden und tobte vor Wut. Am liebsten hätte er Galen sofort hinrichten lassen, doch Goebbels hielt ihn ab. Einen Bischof zum Märtyrer zu machen, hätte seiner Einschätzung nach die Treue der Katholiken in ganz Westfalen erschüttert und dem Reich mehr geschadet als genutzt. Mit der Erschießung des widerspenstigen Bischofs wollte sich Hitler bis nach dem Endsieg gedulden.

Bei der Beendung der Euthanasieaktion müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Einerseits sah sich Hitler gezwungen, die öffentliche Meinung zu berücksichtigen, andererseits waren die Euthanasieaktionen in der langen Zeit des Schweigens der Bischöfe fast bis an ihr Ende gelangt und die Ärzte, die beim Vergasen der Behinderten Erfahrungen gesammelt hatten, gaben diese nun weiter, um eine „Endlösung der Judenfrage" zu erzielen.

Eben wegen der zeitlichen Nähe zwischen dem Ende der Euthanasieaktionen und Beginn der ersten Judendeportationen im Spätsommer 1941 muss sich die katholische Kirche die Frage gefallen lassen, warum sie nicht auch gegen den Holocaust deutlicher Protest einlegte. Ein Protest war jedenfalls möglich, ohne dass dies das Leben der Bischöfe gefährdet hätte.

Doch augenscheinlich war es vor allem das Faktum, dass die Behinderten Deutsche und Christen waren, das die Bischöfe handeln ließ. Clemens August Graf von Galen begrüßte den Überfall auf die Sowjetunion, leistete der Legende von der „sauberen Wehrmacht" Vorschub, als er im Sommer 1945 behauptete, deutsche Soldaten hätten keine Kriegsverbrechen begangen und stellte sich der Strafverfolgung für Kriegsverbrecher entgegen, indem er zum Beispiel die Aufhebung des Todesurteils gegen den SS-General Kurt Meyer durchsetzte.


Lukas Mihr

Quellen:
BERNHARD STASIEWSKI/LUDWIG VOLK, Akten Deutscher Bischöfe über die Lage der
Kirche 1933-1945. Mainz 1968-1985.
PETER LÖFFLER, Bischof Clemens August Graf von Galen - Akten, Briefe und Predigten 1933 - 1946. Paderborn 1988.