Die Evolution erklärt unser Leben

(hpd) Endlich ein Buch, das mir mein Leben erklärt - darauf hatte ich schon immer gewartet! Und tatsächlich: Sehr viele Aspekte des Lebens, von Steak und Schokolade, Helden und Terroristen, bis hin zum Sinn des Lebens, werden in Der Darwin-Code des Autoren-Duos Thomas Junker und Sabine Paul kurz und prägnant auf den Punkt gebracht - und mit einiger Sicherheit werden etliche ihrer deutlich herausgearbeiteten Positionen Widerspruch hervorrufen!

 

Die Biowissenschaftler Junker und Paul haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Deutungsmacht einer neuen, wie sie es bezeichnen: evolutionären Kulturwissenschaft zu dokumentieren. Und dies gelingt ihnen mit leichter Hand. Hintergrund ihres Ansatzes ist die Argumentation, dass viele der für Menschen typischen Eigenschaften erst im Licht der Darwin'schen Theorie verständlich werden. Ob die zu Tage geförderten Erkenntnisse moralisch bedenklich sein mögen oder nicht, das ändere nichts an ihrer Existenz. Allerdings könne man ihre Wirkungsweise erforschen, um sie zu verstehen und eventuell die Gegebenheiten der Natur im Sinne der eigenen Wünsche beeinflussen zu können. Einleuchtend ist an dieser Stelle der Vergleich mit der Überwindung der Schwerkraft, welche täglich durch Tausende von Flugzeugen bewiesen werde.

Die Autoren wählen Ernährung als Einstieg in die Thematik. Dies mag zunächst überraschen, jedoch stellt unsere Ernährung eine wesentliche Grundlage unserer Existenz dar - und in wenigen Worten umreißen Junker und Paul die Notlage unserer mangelhaften Nahrungsaufnahme: Paläolithische Gene treffen heute auf neolithische Ernährung. Wir lieben Hamburger, Schokolade und Pommes, weil sie hervorragend zu unserem altsteinzeitlichen Ernährungsprogramm passen. Hinzu kommt „Brot für die Welt" - Getreide, unverträgliche Milchprodukte und Zucker -, um Menschenmassen mit minderwertigem Futter, seinerzeit für Sklaven im antiken Rom entwickelt, zu sättigen. Gleichzeitig bewegen wir uns zu wenig und bedrohen damit unsere Gesundheit. Sämtliche Ernährungsratgeber werden hier auf den Kopf gestellt und für ungeeignet befunden. Frühstücken? Pustekuchen!

Die sexuelle Selbstbestimmung führt zur Evolution durch Partnerwahl. Die Frauen, so Junker und Paul, haben im Laufe vieler hunderttausend Jahre die Männer nach ihren Interessen geformt, regelrecht gezüchtet - und umgekehrt! Das Handikap-Prinzip, das Zahavi über die Beobachtung von Vögeln entwickelte, fließt in die Erklärung exzessiver Luxusbildungen und realer Risiken zum Zwecke erhöhter Fortpflanzungschancen ein. Denn diese stellen das eigentliche, weil fälschungssichere Kriterium sexueller Wahl dar. Dazu gehören unter anderem das imposante Rad des Pfaus wie auch die knochenlose und dadurch störungsanfällige Erektion des menschlichen Mannes.

Weiter geht es zu den Helden und Terroristen mit der Frage, welchen Selektionsvorteil es einem Menschen bringen soll, wenn er sich selbst tötet. Selbstmordattentäter stammen im Regelfall aus wohlhabenden Mittelklassefamilien, sind gut ausgebildet und zeichnen sich nur zum Teil durch religiösen Fanatismus, hauptsächlich dagegen durch ihre Normalität aus. Die Autoren belegen, dass es nicht notwendig ist, sich selbst fortzupflanzen, sondern es kann ausreichen, der Verwandtschaft Vermehrungsvorteile zu verschaffen. Die Rolle der Religion als „Pseudofamilie" kommt an dieser Stelle ins Spiel: In einer größer werdenden Gruppe können evolutionär gewachsene altruistische Tendenzen für die Machterhaltung der Gruppenführer instrumentalisiert werden. Ähnlichkeiten zwischen den Gruppenmitgliedern würden über Uniformen, Haartrachten oder gemeinsame Rituale und Phantasiewelten („Paradies") hergestellt und damit eine Pseudoverwandtschaft herbeigetäuscht, die in Armeen und Religionen nutzbar gemacht werde. Verringert würde diese Bereitschaft zur Selbstzerstörung über Aufklärung, eine attraktive säkulare Alternative und verbesserte Lebensqualität, so die Autoren.

Ein wesentlicher Teil des Buches ist der Kunst gewidmet, die, so Junker und Paul, den Siegeszug des modernen Menschen, des homo sapiens, erst ermöglicht habe. Das Aussterben der Neandertaler und der asiatischen homo erectus sowie von mehr als 150 Gattungen von Großtieren wird nicht nur auf deren mangelhafte Adaption an klimatische Änderungen zurückgeführt, sondern auf die Überlegenheit der modernen Menschen. Diese Überlegenheit war wiederum bedingt durch ihre Kultur, von Junker und Paul definiert als das gesamte Wissen und Verhalten, das ein Individuum von Mitgliedern seiner sozialen Gruppe übernimmt. Das kollektive Wissen kann zur Konformität und Indoktrinierbarkeit führen und stellt einen Schatz an richtigem wie falschem Wissen dar. Hier greift die individuelle Erfahrung als wichtiges Korrektiv und produziert Innovationen und neues Wissen. Weiterhin kam dem Menschen als sozialem Wesen seine Fähigkeit zum Gedankenlesen zugute, um so Handlungen genau beobachten und nachahmen zu können. Dieses Gedankenlesen wurde auf andere Bereiche der Welt übertragen, um die belebte und unbelebte Natur verstehen und beherrschen zu können. Vielen Menschen fällt es bis heute schwer, sich von derlei magischen, animistischen Vorstellungen zu trennen und sie beschimpfen beispielsweise ihren Computer, wenn dieser nicht so funktioniert, wie sie es gerne hätten.

Die kulturelle Vererbung - beispielsweise über die Herstellung von Kunstwerken - macht Menschen potenziell unsterblich und sie wenden mitunter viel Energie dafür auf, berühmt und erinnert zu werden, um damit in den Erfahrungsschatz einer Gruppe einzugehen, in ihren Mem-Pool. Erste sichtbare Kunstwerke, Höhlenzeichnungen, datieren rund 36 000 Jahre vor heute. Die Autoren sehen Kunst damit als die einzige grundlegend neue Eigenschaft, die die Vorfahren heutiger Menschen gegenüber früheren und anderen Menschenformen auszeichnet. Die Kunst zeigt sich wiederum als Luxusgut im Sinne des Handikap-Prinzips und belegt die genetisch attraktivitätssteigernden Qualitäten ihrer Produzenten in Bezug auf Schönheit, Außergewöhnlichkeit und Verschwendung. Zudem handele es sich bei der Kunst um eine spezielle Art der Kommunikation, durch welche die Gefühle und Ziele der Individuen einer Gruppe gebündelt und Gemeinschaft hergestellt würde - aus der menschlichen Gruppe wird so ein „Superorganismus".

Kunst und Religion weisen Gemeinsamkeiten auf, wie zum Beispiel ihren verschwenderischen Charakter, Prunk und luxuriöse Kultbauten. Unterschiedlich sind dagegen die Realitätsansprüche von Kunst, Wissenschaft und Religion sowie die Schwere des Zwangs: Kunst überzeugt durch Form, die Wissenschaft durch Argumente, die Religion dagegen durch unbelegbare Versprechungen, die „geglaubt" werden müssen, Drohungen ewiger Verdammnis und Minderung des Selbstwertes ihrer Gläubigen. Alle heutigen größeren Religionen entstanden, so Junker und Paul, erst nach der Neolithischen Revolution, d.h. nachdem es zur Bildung von Städten und Staaten, zu Arbeitsteilung und zu einem enormen Machtgefälle kam. Vorher, d.h. bis vor 10000 Jahren, lebten Menschen bis zu zwei Millionen Jahre lang eher egalitär.

Im letzten Kapitel über evolutionäre Strategien werden auf verschiedenen Ebenen biologische Erklärungen mit religiösen Strategien verglichen und auf ihre Tauglichkeit abgeklopft. Lebensfreude, der Sinn des Lebens, den übrigens auch eine Pflanze eindeutig und klar umschrieben hat, die gelungene Partnerwahl und die optimale Geburtenrate - in vielen dieser Punkte erweist sich die Religion als nachteilig für den Menschen, die Biologie jedoch als wichtiges Korrektiv, wenn sie, so die Autoren, „die Missachtung der Natur durch gesellschaftliche Vorgaben offen legt und Menschen als biologische Wesen versteht, die mit Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen ausgestattet sind, ohne deren Erfüllung sie nicht glücklich werden können."

Der Darwin-Code von Thomas Junker und Sabine Paul ist ein wichtiger und gelungener Baustein zum Verständnis des Lebensnotwendigen für uns Menschen, und es ist ihm zu wünschen, dass es nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften fruchtbare Resonanzen auslöst und heiße Diskussionen anstößt.

Fiona Lorenz

 

Thomas Junker, Sabine Paul: Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. Beck, 2009. 224 Seiten, gebunden, Euro 19,90

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.