Die wundersame Welt der Religioten

MASTERSHAUSEN. (hpd) Der neue Film des „Borat"-Regisseurs Larry Charles „Religulous" macht eine neue Typologie von Gläubigen erforderlich, meint Michael Schmidt-Salomon.

Vor einigen Wochen hatte ich die Gelegenheit, den neuen Film des „Borat"-Regisseurs Larry Charles zu sehen: „Religulous", soviel sei verraten, ist ein urkomischer und zugleich todernster Dokumentarfilm, der die wundersamen Ansichten religiöser Eiferer auf charmante und erfrischend respektlose Weise offen legt. Schon der Titel des Films ist Programm, schließlich ist das Kunstwort „religulous" eine Verballhornung von „religious" (religiös) und „ridiculous" (lächerlich). Auf einen kurzen Nenner gebracht: Was Richard Dawkins in seinem Buch „Der Gotteswahn" evolutionsbiologisch und philosophisch zu analysieren versuchte, macht „Religulous" für den Kinobesucher nun auch sinnlich erfahrbar: den schmalen Grat zwischen sanfter Frömmigkeit und manifestem Wahn.

In den USA sorgte der Film für derart volle Kinosäle, dass „Religulous" schon jetzt zu den erfolgreichsten Dokumentarfilmen aller Zeiten zählt. Selbst wenn man nicht alle Positionen des Films teilen muss, wäre den mutigen Filmemachern zu wünschen, dass „Religulous" auch in Deutschland für Furore sorgt. Doch es gibt einige Punkte, die einem solchen Erfolg entgegenstehen dürften. Damit meine ich nicht nur die bedauerliche Tatsache, dass der Star des Films, der grandiose US-Komiker und Talkmaster Bill Maher, in Deutschland bislang noch weitgehend unbekannt ist. Schwerer noch wiegt der Umstand, dass jene besondere Spezies unaufgeklärter Frömmler, die Maher so gekonnt vor der Kamera vorführt, in Europa weit seltener in Erscheinung tritt als in den USA und den meisten anderen Regionen der Welt.

Religiotie als partielle Entwicklungsstörung

Dies sollte uns freilich nicht davon abhalten, uns mit dem Phänomen des religiösen Wahns eingehender zu beschäftigen. Denn in der Tat wird die Welt heute in einem erschreckenden Maße von Menschen regiert, die selbst die verrücktesten Mythen für bare Münze nehmen. Solche Leute einfach als „Gläubige" zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung gegenüber all jenen religiösen Menschen, die auch in Glaubensdingen noch bei Verstand sind und weder von der Existenz „sprechender Schlangen" noch von der realen Wandlung einer Teigoblate in den „Leib Christi" ausgehen. Inspiriert von „Religulous" möchte ich deshalb einen Begriff vorschlagen, der den Glaubenswahn, der uns alle mehr und mehr umgibt, etwas besser verdeutlicht: den Begriff der „Religiotie".

Unter „Religiotie" (Kurzform für „religiöse Idiotie") verstehe ich eine spezielle Form der geistigen Behinderung, die durch intensive Glaubensindoktrination vornehmlich im Kindesalter ausgelöst wird und die zu deutlich unterdurchschnittlichen kognitiven Leistungen sowie spezifischen Einschränkungen des affektiven Verhaltens führt, sobald es um glaubensrelevante Sachverhalte geht - etwa um das Anerkennen der empirischen Belege der Evolutionsbiologie. Im Unterschied zu anderen Formen der Intelligenzminderung muss sich Religiotie keineswegs in einem generell reduzierten Intelligenzquotienten niederschlagen. So wie wir - beispielsweise beim autistischen Syndrom - „Inselbegabungen" feststellen können, gibt es allem Anschein nach auch „Inselverarmungen". Religiotie sollte deshalb vornehmlich als „partielle Entwicklungsstörung" verstanden werden - ein Begriff, den der Entwicklungspsychologe Franz Buggle schon vor einigen Jahren vorgeschlagen hat, um die spezifischen Denkhemmungen religiöser Fundamentalisten zu fassen.

Pseudo-Religioten klingen religiotisch, meinen es aber nicht so!

Deutlich abzugrenzen von der Spezies der Religioten ist, we gesagt, die überwältigende Mehrheit gläubiger Menschen, die wir insbesondere hier in Mitteleuropa antreffen. Diese könnte man allenfalls unter dem Begriff „Pseudo-Religioten" fassen. Pseudo-Religioten klingen zwar mitunter religiotisch, sie meinen es aber gar nicht so! Bedauerlicherweise führt der ungewöhnliche Sprachgebrauch der Pseudo-Religioten immer wieder zu Missverständnissen. So habe ich mich in den letzten Jahren regelmäßig auf öffentlichen Podiumsdiskussionen mit Theologen gestritten, die, wie ich beim abschließenden Biere feststellen konnte, in Wirklichkeit keine Spur gläubiger waren als ich.

Pseudo-Religioten machen sich manchmal einen Spaß daraus, Religionskritiker, die mit guten Gründen vor den Gefahren der Religiotie warnen, aus der Fassung zu bringen. Unvergessen etwa der Moment, in dem der EKD-Vorsitzende Wolfgang Huber bei „Kerner" Richard Dawkins darüber aufklärte, dass die Hölle, wenn sie denn existiere, „leer" sei. Ich für meinen Teil habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass „Pseudo-Religiotisch" eine Art „Dialekt" ist, den ich als Rationalist ebenso wenig verstehen kann wie ein Oberbayer das Ostfriesische. Kapiert habe ich aber zumindest, dass für Pseudo-Religioten Wörter wie „Auferstehung", „Schöpfung", „Hölle", „Himmel", „Gott", „Teufel", „Wunder" oder „Dämonen" gänzlich andere Bedeutungen zu haben scheinen als für jeden anderen, der diese Worte gebraucht. Welche Bedeutungen dies genau sind, vermochte ich bislang trotz aller Anstrengungen zwar nicht zu eruieren, doch es sollte klar sein, dass wir uns wegen der Pseudo-Religioten eigentlich keine größeren Sorgen machen müssen. Sie sprechen zwar zugegebenermaßen mit einem höchst seltsamen, religiotischen Akzent, sind aber im Grunde harmlos.

Vorsicht, Vollreligioten!

Dies trifft leider auf die Gruppe der echten Religioten nicht zu, insbesondere nicht auf die militanten Vertreter dieser Spezies, die man wohl am treffendsten als „Vollreligioten" bezeichnen kann. Vollreligioten halten nicht nur die absonderlichsten Dinge für wahr, sie sind auch bereit, jede nur erdenkliche Gewalttat zu begehen, um ihre verquere Sicht der Dinge gesellschaftlich durchzusetzen. Bill Mahers Warnung am Schluss von „Religulous" ist deshalb leider kein Witz: In der Tat ist zu befürchten, dass die apokalyptischen Wahnvorstellungen vollreligiotischer Aktivisten irgendwann einmal in Gestalt von „selbsterfüllenden Prophezeiungen" Wirklichkeit werden könnten. Denn die Technik des 21. Jahrhunderts steht tragischerweise auch jenen zur Verfügung, die weltanschaulich auf der Stufe archaischer Hirtenkulturen stecken geblieben sind - und diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" dürfte auf lange Sicht kaum gut gehen.

Selbstverständlich gibt es, wie bei jeder Typologie, auch bei der hier vorgeschlagenen fließende Übergänge. So entwickelte sich mancher Vollreligiot im Laufe seines Lebens zum Pseudo-Religioten. Manch einer verlor dabei sogar jeglichen religiotischen Akzent. Umgekehrt avancierten manche Pseudo-Religioten zu absoluten Vollreligioten. Offenbar ist keine Idee absurd genug, als dass sich nicht doch Menschen fänden, die sie bedingungslos glauben und mit Waffengewalt verteidigen würden.

Die Religioten sind mitten unter uns!

Es könnte, wie ich meine, ein schöner Denksport sein, Prominente in die nach oben offene Religiotie-Skala einzuordnen: Wo etwa steht ZDF-Prediger Peter Hahne, wo Benedikt XVI., wo die Piusbrüder, wo die „fantastischen vier Ms" der Deutschen Bischofskonferenz, Mixa, Meisner, Marx und Müller? Man muss Maher und Charles sehr dafür danken, dass sie es wagten, mit „Religulous" eine Expedition in die wundersame Welt der Religioten zu unternehmen. Denn nun ist es nicht mehr von der Hand zu weisen: Die Religioten sind mitten unter uns! Darüber kann man ebenso lachen wie erschrecken. Im Kino wie im wahren Leben.

MSS