Religiöse Denkstrukturen in der Politik

(hpd) Der britische Ideenhistoriker John Gray führt in seinem Buch „Politik der Apokalyse“ die politischen Verwerfungen im 20. und 21. Jahrhundert auf die Fortexistenz religiös geprägter Einstellungen in Gestalt von Apokalypse, Heilslehren und Utopismus auch im säkularen Gewande zurück.

Bei aller notwendigen Kritik an Pauschalisierungen und Simplifizierungen macht der Autor zutreffend auf bedenkliche Strukturmerkmale auch und gerade in der Legitimation der Politik von westlichen Demokratien aufmerksam.

Wie können die politischen Konflikte und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erklärt werden? Zu dieser Frage lieferten Intellektuelle und Politiker, Publizisten und Wissenschaftler die unterschiedlichsten Antworten. John Gray, Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics, reiht sich mit seinem Buch „Black Mass. Apocalyptic Religion and the Death of Utopia“ von 2007 in deren Schar ein. Es erschien jetzt in deutscher Übersetzung unter dem Titel “Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt“. Grays Antwort auf die oben gestellte Frage ist in diesen Formulierungen enthalten: Er geht davon aus, dass die dominierenden politischen Strömungen des abgelaufenen 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts von religiösen Denkstrukturen geprägt waren und sind. Dies gelte auch und gerade für sich dezidiert säkular verstehende Ideologien und Weltanschauungen, welche durchgängig Erlösungsvorstellungen mit eschatologischem, manichäischem, millenarischem und teleologischem Einschlag aufwiesen.

Gray will für diese Deutung in den sechs Kapiteln seines Buchs Belege liefern: Zunächst präsentiert er seine zentrale These: „Die Politik der Moderne ist ein Kapitel der Religionsgeschichte“ (S. 9) und geht auf zentrale Arbeitsbegriffe wie „apokalyptische Politik“ oder „Geburt der Utopie“ ein. Danach widmet der Autor sich in den folgenden Kapiteln den unterschiedlichsten Erscheinungsformen: Hierzu zählen als erstes die totalitären Systeme, wozu es heißt: „Nationalsozialismus und Kommunismus sind Ausgeburten der westlichen Moderne“ (S. 110). Gray meint den von ihm kritisierten Utopismus aber auch in demokratischen Systemen der westlichen Welt ausmachen zu können, wofür die Ausführungen über den Neokonservativismus und Neoliberalismus in der britischen Politik von Thatcher bis Blair oder die Außenpolitik der Bush-Administration mit ihrem „missionarischen Imperialismus, liberalen Imperialismus“ (S. 249) im Kontext des „Krieges gegen den Terror“ und des Krieges gegen den Irak stehen.

Bilanzierend bemerkt Gray: „Die politischen Ideologien der letzten 200 Jahre waren getragen von einem Mythos der innergeschichtlichen Erlösung, der das fragwürdigste Geschenk des Christentums an die Menschheit ist. Die im Glauben an diesen Mythos gründende Gewalt ist gleichsam ein Geburtsfehler des Abendlands“ (S. 284f.). Apokalyptik und Eschatologie, Millenarismus und Utopismus hätten demokratische wie diktatorische Systeme geprägt und zu Kriegen, Unterdrückung und Wirtschaftskrisen beigetragen. Auch der „Krieg gegen den Terror“ der Bush-Administration sei mit seiner Absicht zur weltweiten Verbreitung der Demokratie und dem Triumph über das Böse Ausdruck apokalyptischer Religiosität. Dem stellt der Autor die Orientierung am Realismus gegenüber: Dessen Anhänger „distanzieren sich von teleologischen Geschichtsbildern. Sie halten die Vorstellung, dass die Menschheit sich einer Entwicklungsstufe nähert, auf der sich der Streit um die beste Regierungsform erledigt haben wird, nicht nur für illusionär, sondern auch für gefährlich“ (S. 302).

Gray legt eine durchaus interessante Deutung politischer Verwerfungen in den letzten Jahrzehnten vor. Gleichwohl weist sein Ansatz gleich zwei Mängel methodischer Art auf: Erstens arbeitet er mit einem sehr allgemein gehaltenen Religionsbegriff, welcher nahezu alle ihm als unrealistisch geltenden politischen Auffassungen unter dem Terminus subsummiert, ohne die inhaltlichen Besonderheiten der Religion zu erfassen. Zweitens verabsolutiert der Autor seinen Deutungsansatz in unzulässiger Weise, werden doch andere Bedingungsfaktoren ausgeblendet. Hinzu kommen bedenkliche Gleichsetzungen, welche etwa Blair und Bush ebenso wie Hitler und Stalin zur Anhängerschaft „politischer Religionen“ zählen. Dem stellt Gray dann in dualistischer Weise – übrigens auch eine als typisch religiös geltende Denkungsart – sein Verständnis von Realismus gegenüber. So einfach ist es dann aber doch nicht! Gleichwohl verweist Gray anschaulich auf die Fortexistenz religiöser Strukturmerkmale in Einstellungen im säkularen Gewande.

Armin Pfahl-Traughber

John Gray, Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt. Aus dem Englischen von Christoph Trunk, Stuttgart 2009 (Klett Cotta), 363 S., 22,90 €