Aus dem christologischen Tollhaus befreit

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(Ausschnitt) Lutherdenkmal in Wittenberg

GÖTTINGEN. (hpd) Der Reformationstag gedenkt auch dem Wirken des Reformators Martin Luther und seiner Verdienste. Einmal historisch betrachtet - was die Heilserwartung an Christus bedeutet -, fragt man sich allerdings, was damit gemeint sein könnte.


Reflexionen von Gerd Lüdemann

 I.

Die frühen Christen glaubten, dass Jesus von Nazareth der von Gott gesandte Messias („Christus“) ist, an dem sich Heil und Unheil entscheiden. Sie bezogen sich dabei auf die heiligen Schriften des sog. Alten Testaments, und zwar nicht nur auf die darin enthaltenen ausdrücklichen Verheißungen, sondern auch auf alle anderen Worte. Diese seien für sie selbst geschrieben, „zur Warnung“ oder „zur Lehre“. Jesus persönlich, so erzählte man sich, hatte über die Schriften gesagt: „Sie legen Zeugnis von mir ab.“ Während der Wanderung durch die Wüste soll er die Israeliten als geistlicher Fels begleitet haben. Er galt als der eigentliche Sprecher vieler Psalmen, sein Geist sei in den Propheten des Alten Testaments anwesend gewesen. Als den im Himmel beheimateten Sohn Gottes fanden die frühen Christen Jesus sogar in der Schöpfungserzählung wieder: Durch ihn als das „Wort“ habe Gott alles geschaffen. Kundige Theologen leiteten Jesu gesamtes Auftreten vom Alten Testament her und „bewiesen“ die Einzelheiten seines Lebens – Jungfrauengeburt, Leiden, Tod, Auferstehung – sowie die erhofften Zukunftsereignisse – Wiederkunft Jesu auf den Wolken des Himmels, Gericht, ewiges Leben – aus der Schrift.

                                                  II.

Katholische Bischöfe stellten seit dem zweiten Jahrhundert aus frühchristlichen Schriften das Neue Testament zusammen. Weil das Alte Testament darin auf vielfältige Weise aufgenommen wurde, blieb es für immer ein christliches Buch. Auch Martin Luther setzte das voraus und übernahm den „Schriftbeweis“ der frühen Christen. Das stärkste Motiv seiner Auslegung war der vermeintlich direkte Bezug des Alten Testaments auf Jesus Christus. Dieser habe es durch sein Kommen erfüllt. Deswegen richten sich die alttestamentlichen Texte, meinte Luther, als Predigt über Christus direkt an die Gläubigen. Die schlichte sprachliche Gestalt des Alten Testaments entspreche der Tatsache, dass Gott mit ihm die Demütigen und Kleinen suche. Sie passt, meinte Luther weiter, zur „Knechtsgestalt“ des neutestamentlichen Wortes über Christus.

Unter Berufung auf den eindeutigen Wortsinn der Bibel hatte der Reformator den Kampf gegen das päpstliche Lehramt aufgenommen, überzeugt, seine eigenen exegetischen Ergebnisse seien identisch mit der „Sache“ der Schrift, Jesus Christus. Luther machte die Bibel zur Norm aller theologischen Aussagen und setzte sich schon früh für die alleinige Verbindlichkeit ihres wörtlichen Sinns ein. Für ihn beruht der Glaube auf „Geschichte“, und die Auslegung des Alten Testaments durch die neutestamentlichen Verfasser sei nichts anderes als die Wiedergabe der ursprünglichen Absicht der alttestamentlichen Autoren. Dieses christliche Verständnis des Alten Testaments sicherte er durch philologische und historische Argumentation ab; die Frage der korrekten Übersetzung erhielt einen Schwerpunkt. Da die Schrift die einzige Autorität war, kam alles darauf an, dass sie einen festen, eindeutigen Sinn hatte. Allegorese – die Suche nach einem jenseits des Textes liegenden Sinn – lehnte Luther ab; sie zerstöre die wahre Geschichte und mache die Schrift zu einem „zerrissenen Netz“.

                                                  III.

Luther hat innerhalb des Protestantismus langfristig den Weg zur historischen Kritik der Bibel gewiesen und den richtigen Schritt nach vorne getan. Doch war sein Bemühen, den wörtlichen Sinn der Schrift, die reale Geschichte herauszufinden, eng mit einem mythologischen Weltbild verbunden, das ihn wieder zwei Schritte zurück gehen ließ. Er bleibt uns deshalb fremd, ebenso wie die neutestamentlichen Autoren auch. Sie und der Reformator lesen allesamt in die Texte des Alten Testaments, ohne Kontrolle an der historischen Wirklichkeit, ihren eigenen Glauben hinein. Dieser Missbrauch hält bis heute an, wie aus zwei Beispielen hervorgeht:

a) Das Alte Testament habe im Buch Jesaja, Kapitel 52–53 („Fürwahr, er trug unsere Krankheit …“) prophezeit, dass Jesus als Gottesknecht stellvertretend für die Vielen leiden und sterben werde. Diese These scheitert an Kontext und Inhalt des genannten Textes. Er schließt einen Zyklus von insgesamt vier Gottesknechtsliedern ab, die sich als relativ selbständige Größe aus dem zweiten Teil des Jesajabuches (Kapitel 40–55) abheben. Ihnen zufolge hat der Gottesknecht die Aufgabe, die Zerstreuten Israels, die sich seit 587 v. Chr. im babylonischen Exil befinden, aufzurichten, sie nach Palästina zurückzubringen und einen Kult zu gründen. Zweifellos haben diese Lieder nicht Jesus im Blick, sondern eine Gestalt aus vorchristlicher Zeit.
b) Das Alte Testament habe im Buch Jesaja, Kapitel 7, Vers 14, die Jungfrauengeburt Jesu geweissagt, wie der Evangelist Matthäus in der Weihnachtsgeschichte erzählt.

Diese Ansicht wird unter anderem dadurch widerlegt, dass die Ankündigung der Geburt eines Knaben in Jesaja 7 eindeutig ein noch zu Lebzeiten des Königs Ahas (8. Jahrhundert v. Chr.) eintretendes Ereignis im Blick hat.

Außerdem steht im hebräischen Original „junge Frau“ (hebr. almah), nicht „Jungfrau“ (hebr. bethulah). Luther hatte noch die Jungfräulichkeit der Maria damit verteidigen wollen, dass almah „Jungfrau“ bedeute; er wollte einhundert Gulden dem bezahlen, der den Nachweis führen könnte, almah bedeute nicht „Jungfrau“, sondern „junge Frau“. Dieser Nachweis ist inzwischen erbracht; Luther müsste den Betrag bezahlen.

Die Fehlübersetzung bei Matthäus ist dadurch zustande gekommen, dass er den Text der griechischen Übersetzung des Alten Testaments verwendet, der „Jungfrau“ liest, und nicht das hebräische Original, wo „junge Frau“ steht. Die letzte Ausgabe der revidierten, oftmals nachgedruckten Lutherbibel aus dem Jahr 1984 berücksichtigt diese Einsicht zu Jesaja 7, Vers 14 nicht, sondern wiederholt Luthers Falschübersetzung.

Wenn Aufklärung darin besteht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, führt das zu dem Schluss: Die kirchlich-christologische Deutung des Alten Testaments ist, ebenso wie das ptolemäische Weltbild, unwiderruflich und von Grund auf zerstört. Denn aus den genannten Beispielen geht zwingend hervor, dass frühe Christen die Texte des Alten Testaments gewaltsam und gegen deren ursprüngliche Absicht auf Christus hin umgebogen haben.

Wer einmal vom Baum der historischen Erkenntnis gegessen hat, vermag eine Interpretation des Alten Testaments auf Christus hin heute nicht mehr als ernsthafte Möglichkeit anzusehen; er ist aus dem christologischen Tollhaus befreit.

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Gerd Lüdemann ist Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen. Von ihm ist gerade erschienen: Die ersten drei Jahre Christentum (Verlag zu Klampen).