(hpd) Im gerade abgelaufenen Darwin-Jahr 2009 ist zum Thema Evolutionsbiologie ein wahres Meer an Publikationen erschienen, aus dem sich gleichsam 'einsam wie eine Insel' markant ein Werk abhebt: Evolution – Ein Lese-Lehrbuch. Ein Buch, das wie "Der Stryer" in der Biochemie schon jetzt das Zeug zum Klassiker in der Evolutionsbiologie hat...
– wäre da nicht der Name des Erstautors des tschechischen Originals: "Der Zrzavý". Fast unaussprechlich (etwa: Sersawie). Vielleicht setzt sich nach den Herausgebern der deutschen Übersetzung "Der Burda" oder "Die Begall" (oder eine 'Rekombination'...?) durch. Aber das wird sich als unerheblich erweisen; denn "Evolution" ist schlichtweg begeisternd.
Was von einem 'normalen' Buch über Evolution erwartet werden kann, zeigen die kürzlich erschienenen Beispiele – wobei z.B. Dawkins' "Geschichten vom Ursprung des Lebens" (2008) oder Kutscheras "Tatsache Evolution" (2009) sicherlich zu den interessanteren gehören. Was kann darüber hinaus von einem Lese-(Lern!)-Lehrbuch für Studierende, Lernende und Lehrende erwartet werden? Etwa Aufmachung, Aufbau, Abbildungen, Inhalt, Vollständigkeit, Liebe zum Detail und Stil? Exakt all dieses und weit mehr bietet "Der Zrzavý" bereits auf den ersten, erst recht auf den zweiten und dritten Blick (für Lehrende sind die Abbildungen auch gesondert auf CD erhältlich).
Es ist einfach alles drin und dran:
- frisch-frech-witzig... (Zitat (S. 224): "Im Vergleich zu einem Delfin ist der Mensch ein ganz normales, im Prinzip primitives Säugetier, das während seiner Evolution außer der Reduktion des Schwanzes, der verlängerten Brutpflege und der zwanghaften Neigung zum Musikkomponieren nicht viel geschafft hat. Wale waren dagegen dramatischen Änderungen unterworfen...")
- ...und leicht verständlich (aber eher nur bedingt für Einsteiger) geschrieben, dennoch kompromisslos wissenschaftlich und (weil der Evolutionsgedanke notwendigerweise nun mal so ist!) auch provokativ;
- die gleich in der Einleitung kurz und klar abgehandelte Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Glaube sowie die notwendige (am Ende wieder aufgegriffene) Unterscheidung von ziel-/zweck-gemäß und -gerichtet: Evolution ist nicht teleologisch auf ein geplantes Ziel gerichtet;
- von der Historie der Hypothesenbildung (samt diverser Personen-Kurzportraits, d.h. keinesfalls einseitig z.B. 'egoistischen Genen' folgend) bis zum neuen und neuesten Stand (Endosymbiose, Evo-Devo, Epigenetik, Sexualität und vieles andere mehr);
- im Gegensatz zum tschechischen Original in der deutschen Übersetzung unzählig viele, klare, häufig ins Auge springende, manchmal verblüffende Abbildungen (Die Abb. 1.5 (auf S. 23) ist schlichtweg der Verblüffungs-'Hammer'; mehr sei hier nicht verraten – jedem Menschen sein eigenes Lese-Erlebnis...);
- didaktisch hervorragend in jedem Kapitel einführende Zielsetzungsfragen, viele kurze Zusammenfassungen am Seitenrand, viele klar erläuternde (und häufig querverweisende) Info-Boxen mit einer Vielzahl erklärter Fachbegriffe sowie am Ende jedes Abschnitts (durchaus herausfordernde) Übungsfragen;
- diskutierte Kontroversen (z.B.: Zufall ja/nein; oder: Artbegriff/e);
- 22 (!) Seiten Glossar, 12 (!) Seiten vielfach originäre Literatur-Hinweise sowie außerdem langer Personen- und langer Sach-Index. Doch, hoppla, im Letzteren findet sich keinerlei Hinweis auf die gesuchten "Bakterien"! Bis sich zeigt, dass sich da ja noch ein extra Organismen-Index mit all dem Gesuchten anschließt...
Fazit: Ein absolut empfehlenswertes Lese-, Lern-, Lehr- und Nachschlage-Werk. In einem üblichen Bewertungsschema von * bis ***** hat es ungewohnte 6 Sterne verdient!
Ein paar Nachbemerkungen des Rezensenten für die geplante 2. Auflage (die Autoren begrüßen Verbesserungsvorschläge!):
- Worauf soll ein Buch über Evolution aufbauen, wenn nicht auf Darwin? Die Antwort auf diese rhetorische Frage ist klar. Aber das Buch betont geradezu (und natürlich berechtigt) die enormen Fortschritte in der Evolutionsforschung der letzten 150 Jahre. Aus diesem Blickwinkel lohnte sich hie und da ein Austausch des häufig benutzten "darwinistisch" durch "evolutionsbiologisch".
- So klar, wie in dem Buch ein teleologisches Ziel der Evolution (wie z.B. "Komplexität") verneint wird, impliziert der (zugegebenermaßen im Buch selten benutzte) Begriff "Richtung" ein solches Ziel leider in bestimmten Kreisen. Daher sollten "Trends", "Neuigkeiten" oder "Differenzierungen" (ja, das alles sind doch lediglich Evolutions-Charakteristika, eben gerade darum...) als nicht notwendige Kennzeichen eines ungerichteten Evolutions-Pfades beschrieben werden. Eine einzige globale Katastrophe könnte (wie in der geologischen Historie der Erde gezeigt) einen solchen Pfad (sprich: Trend etc.) abrupt stoppen oder sogar ins negative Gegenteil verkehren...
- In vielen Werken über Evolution ist ein Stammbusch/-baum (wie von Darwin oder Haeckel) abgebildet, weil anschaulich – wenngleich aus heutiger Sicht unvollständig. Eine solche Reproduktion wäre aus historischer Sicht dennoch angezeigt; aber kontrastierend mit einer Abbildung des heutigen Wissenstandes zu versehen, der die diversen horizontalen Gentransfer-Verknüpfungen zwischen den 'Art'-Ästen (Stichwort: Endosymbiose, d.h. nicht nur zwischen Bakterien) widerspiegelt. Etwa so wie im TREE OF LIFE web project, aber dreidimensional – das wäre eine Herausforderung für Graphiker!
Aber gegenwärtig sind wir ja mit der Erstausgabe hervorragend bedient...
Hans Trutnau
Original von Zrzavý, J., Storch, D., Mihulka, S.: "Jak se delá evoluce", Prag 2004
Deutsche (erheblich erweiterte) Übersetzung nach Jahren der praktischen Lehre-Erprobung herausgegeben von Burda, H., und Begall, S.: "Evolution - Ein Lese-Lehrbuch". Gebunden, knapp 500 Seiten, € 39,95, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009