Werte der französischen Nation bleiben unklar

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Staatspräsident Nicolas Sarkozy

FRANKREICH. (hpd) Nicolas Sarkozy hat es im Wahlkampf versprochen und Eric Besson, Minister für Immigration und nationale Identität, machte es im Oktober 2009 wahr: Er startete eine "Große Debatte über die Werte der nationalen Identität." Geführt wurde sie von Präfekten und Parlamentarier, mithilfe der „lebendigen Kräfte der Nation".

Die Debatte sollte einen Monat vor den regionalen Wahlen enden, so dass Verbände und die Opposition gleich von einem Wahlkampf-Manöver sprachen und die Debatte zunehmend Konflikte provozierte.

Bereits in November sorgte der Nachbar Schweiz für Verwirrung: Die Schweizer stimmten zu 57% gegen den Bau von weiteren Minaretten und die französische Rechte nahm dies zum Anlass, den Ton der Debatte zu verschärfen. Der Bürgermeister (UMP) von Gussainville eröffnet die lange Reihe von rechten Angriffen gegen die Migranten und sagt: „Es ist an der Zeit, zu reagieren, weil sie uns fressen werden (...) Sie sind bereits zehn Millionen. Zehn Millionen, die man bezahlt, ohne dass sie dafür einen Dreck tun!" Aufschrei und der Vorwurf "fremdenfeindliches Treiben“ einerseits und andererseits gründen Unterstützer des Bürgermeisters eine Initiative zur Verteidigung der Meinungsfreiheit. In der Konsequenz rufen in Dezember zwanzig angesehene Forscher dazu auf, das Ministerium für Integration und nationale Identität abzuschaffen, da sie glauben, dass es „die Gefahr der Isolation und Ausgrenzung in Frankreich vergrößert.“

Gleich darauf bringt Sarkozy seinen zweiten Beitrag zur Debatte in Le Monde ein. Nach der Schweizer Abstimmung gegen Minarette - die nach ihm "karikierte Überreaktionen“ hervorriefen, lobt er die "Rassenmischung" in der Gesellschaft, als Bollwerk gegen den "Kommunitarismus". Er richtet sich dabei sowohl an die Muslime "die, die kommen" und die Franzosen, "diejenigen, die empfangen“, diese Identität zu respektieren.

SOS Rassismus (eine Organisation gegen Rassismus) reagiert sofort, indem sie Sarkozy zur Beendigung einer Debatte aufruft, die zu „einem Faktor von Uneinigkeit und Hass wird, dort, wo unser Land das Bestreben zum Zusammenleben kultivieren sollte.“ Der Text wird von 140 Persönlichkeiten (Politiker, Intellektuelle und Künstler) unterzeichnet. Als Gegenangriff erklärt Ende Dezember der Chef der UMP-Fraktion, Jean-Francois Cope, dass er einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der das Tragen eines das Gesicht komplett bedeckenden Kopftuches in der Öffentlichkeit verbieten wird.

Nach offizieller Deutung ging es bei der Regierungsinitiative darum, „auf das Wiederaufleben des Kommunitarismus zu reagieren, für welche das Problem der Burka eine der Illustrationen ist. Ebenso wie die EU in eine neue Phase der Integration eintritt, in der die wirtschaftliche Krise zeigt, wie die internationale Globalisierung der Finanzmärkte die Zukunft der Nationen voneinander abhängig macht, sollen alle unsere Bürger gründlich darüber nachdenken, was es bedeutet, im frühen 21. Jahrhundert Franzosen zu sein."

Auf der offiziellen Website der Aktion setzte sofort einen regen Gedankenaustausch ein, wobei, zumindest am Anfang, kritische Beiträge zensiert wurden. Im Allgemeinen herrschte die Ablehnung der Initiative aus Angst vor extremistischem Nationalismus vor. Oder es wurde z. B. argumentiert, dass eine feste Definition von dem was als Französisch gilt, die Meinungsfreiheit und überhaupt die Freiheit von Menschen mit davon abweichenden Interpretationen gefährde, oder dass es heute wichtiger ist, die europäischen Werte zu definieren. Trotzdem stellt kaum jemand die Existenz einer französischen Nation überhaupt infrage, hat sie auch bewundernswerte oder manchmal abscheuliche Züge. Man will sie bloß nicht wertemäßig definieren lassen. Auch wird darauf hingewiesen, dass diejenigen, welche die französische Spezifizität leugnen, oft die gleichen Leute sind, die Verfechter der "französischen" Laizität seien. Nicht aus dem Blickpunkt der französischen Nation sollte man sich aber z. B. mit dem extremistischen Islam auseinandersetzen, sondern aus Sicht der laizistischen Werte der französischen Republik.

Nachdem die Debatte sich jedoch mehr und mehr vom Thema der Wertebestimmung entfernte, die rassistischen Untertöne zunahmen und sie sich fast nur noch um den Islam drehte, sowie der rechtsradikalen Nationalen Front unverhofft ein neues Forum verschaffte, verkündete nun vorige Woche Premierminister François Fillon die Initiative für gescheitert.

Umfragen zufolge greift die Debatte nicht. Die Franzosen lässt das Thema der Werte kalt (nach einer Umfrage bejahen nur 22 % der Befragten die Diskussion und 61% lehnen sie ab). Wenn Sie schließlich doch gefragt werden, was die wichtigsten Bestandteile der nationalen Identität wären, steht ganz oben die Geschichte Frankreichs (92%) und die demokratischen Wahlen (91%). Dann die Flagge (89,9%) und das Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (89,8%) gefolgt von der ethnischen Mischung, der Kultur, der Gastronomie oder der Marseillaise. Sogar im Regierungslager wuchs die Kritik. So fragte der früheren Premierminister Juppé: "Was es heißt, Franzosen zu sein, stellt sich nicht wirklich, es stellt sich nur die eigentliche Frage, ob Frankreich seine Tradition der Gastfreundschaft treu oder nicht treu bleibt." Angesichts dieser Kritik blieb Minister Eric Besson gelassen und präsentierte noch am 4. Januar die qualitative Synthese der ersten 50 000 Eingänge und der ersten 100 lokalen Versammlungen zu der französischen Wertenbestimmung.

Nun aber wird Eric Besson allein gelassen und für alle Diskussionsexzesse verantwortlich gemacht. Besson dazu noch in Januar: "Ich bin froh, dass es Stammtischparolen gab, auch sie sind Teil der nationalen Identität.“ Der Satz "Kraft unserer Nachlässigkeit enden wir dort, wo wir nicht mehr wissen wer wir sind ", von Nicolas Sarkozy im vergangenen Herbst ausgesprochen, um die Gründe für die Erörterung der Identitätsfrage zu rechtfertigen, könnte nun letzlich für die Initiative von Eric Besson selbst gelten.

Trotzdem wird die Debatte bis zum Ende des Mandats Nicolas Sarkozy weitergehen. Fillon wollte die gescheiterte Initiative beenden, aber Sarkozy bat ihm ausdrücklich, sie nur als einen Etappenabschnitt zu betrachten. Ein Ausschuss von bedeutenden Persönlichkeiten wird nach den nächsten Regionalwahlen beauftragt werden, die Debatte fortzusetzen und im April, nach der Landtagswahl, wird der Präsident erneut über das Thema sprechen.

Die Regierung bereitet außerdem ein Programm der politischen Bildung der Jugend vor. Sie will eine stärkere Sensibilisierung für die Werte der Republik. Für September 2010 wird ein "Buch der jungen Bürgerinnen und Bürger" angekündigt, das die Schüler von der Grundschule bis zum Gymnasium begleiten wird. Staatsbürgerkunde wird "erweitert" an den Oberschulen gelehrt und der feierliche Tag der Vorbereitung auf die Landesverteidigung (JAPD) soll „ein echter Bürgertermin“ werden. François Fillon möchte auch „den Stolz, Franzosen zu sein" kultivieren. Er will den „Respekt für die Symbole der Republik" fördern. Die Trikolore wird in jeder Schule und die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte wird in jeder Klasse aufgehängt werden. Schließlich wird die Anerkennung der französischen Staatsangehörigkeit "mehr feierlich" gestaltet werden, mit einer „systematischen Praxis von Begrüßungszeremonien" und der Unterzeichnung einer "Charta von Rechten und Pflichten". Offensichtlich hat der Kampf gegen die nationalistische Interpretation der Werte der Republik erst angefangen.
 

Recherche und Übersetzungen von R. Mondelaers

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