Frankreichs Laizität und die Debatte um das neue Abaya-Verbot in öffentlichen Schulen

abaya.jpg

Frau in Abaya
Frau in Abaya

Das Abaya-Verbot, das seit diesem Monat an Frankreichs öffentlichen Schulen gilt, hat eine intensive Debatte im Land ausgelöst. Eine Abaya ist ein fuß- bis bodenlanges, hochgeschlossenes, langärmeliges Überkleid, das von muslimischen Frauen vor allem im Nahen Osten und in Nordafrika getragen wird. Das Verbot wird von einigen als Angriff auf die Religionsfreiheit eingestuft. Andere sehen darin eine Verteidigung der Laizität, der republikanischen Werte und der Gleichberechtigung der Geschlechter.

Um die Auseinandersetzung über das Verbot von Abayas in französischen Schulen angemessen zu verstehen, ist es entscheidend, die rechtlichen Rahmenbedingungen in Frankreich zu berücksichtigen, die sich erheblich von denjenigen in Deutschland, der Schweiz und Österreich unterscheiden. Ein Fehler wäre es, unsere eigenen Maßstäbe und Interpretationen eines säkularen Staates auf das französische Rechtssystem und die politische Ordnung zu übertragen.

Die französische Verfassung von 1958 proklamiert im ersten Artikel unter anderem:

"Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie achtet jeden Glauben."

Frankreich strebt also an, ein laizistischer Staat zu sein, weil die Laizität als Garant für die Bewahrung der Rechte eines jeden Einzelnen angesehen wird. Die offizielle deutschsprachige Webpräsenz des französischen Präsidialamtes klärt auf:

"Der Laizismus ist einer unserer wichtigsten Grundsätze, das Kernstück einer harmonisch funktionierenden Gesellschaft und der Mörtel für den Zusammenhalt eines geeinten Frankreichs."

Es ist anzumerken, dass der französische Originaltext an dieser Stelle den Begriff "laïcité" verwendet, der im Deutschen besser mit "Laizität" statt "Laizismus" übersetzt werden sollte. Letzterer Begriff trägt bei vielen Gläubigen aufgrund historischer Assoziationen eine negative Konnotation, da er mit "antikatholisch" in Verbindung gebracht wird.

Die verfassungsgesetzlich geregelte Laizität gewährleistet, dass es jedem in Frankreich freisteht, zu glauben und seine Religion auszuüben, solange dies nicht gegen die öffentliche Ordnung verstößt. Niemand darf zur Einhaltung religiöser Dogmen oder Auflagen gezwungen werden. Zur Laizität zählt auch das Gebot der Neutralität des Staates gegenüber allen Religionen. Worin sich die Laizität Frankreichs von der Säkularität, wie wir sie kennen, unterscheidet, ist die konsequent durchgezogene institutionelle Trennung von Kirche und Staat. Diese geht auf ein Gesetz aus dem Jahr 1905 zurück, das erstmals eine vollständige Trennung vorschrieb. Dies geschah, um die problematische Verbindung von Monarchie und katholischer Kirche endgültig zu beenden. Die Laizität hat jedoch auch deshalb einen so hohen Stellenwert in der französischen Gesellschaft, weil sie von den Idealen der Französischen Revolution geprägt ist. Zwei der drei berühmten Parolen der Revolution, liberté und égalité (Freiheit und Gleichheit), beinhalten die Idee, dass der Wert eines Individuums nicht an seiner Religion gemessen werden darf. Eine der Hauptziele der entschiedenen Verfechter der Laizität ist es daher, wie der französische Bildungsminister Gabriel Attal kürzlich formulierte, sicherzustellen, dass beim Betreten eines Klassenzimmers niemand in der Lage sein sollte, die Religion der Anwesenden zu erkennen.1

Ein Beispiel verdeutlicht die Verschiedenheit der Konzepte Laizität und Säkularisierung: Während in Österreich gesetzlich2 vorgeschrieben ist, dass an Schulen, an denen die Mehrheit der Schüler einem christlichen Glauben angehört, in allen Klassenräumen ein Kreuz angebracht sein muss, sind religiöse Symbole in den Schulen des laizistischen Frankreichs verboten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Frankreich der Glaube als Privatsache betrachtet wird und religiöse Menschen damit rechnen müssen, dass in der staatlichen Sphäre kein Raum für Religion vorgesehen ist.

Laizität versus Islamismus

Während es im Jahr 1905 darum ging, den Einfluss der katholischen Kirche auf staatliche Aufgaben zu beseitigen, sind die Katholiken in Frankreich inzwischen leiser geworden. Die Kirchen sind abseits von Touristenströmen weitgehend leer, nur 8 Prozent der Katholiken in Frankreich besuchen regelmäßig einen Gottesdienst, 3 Prozent halten die Fastenregeln ein.3 Während also die katholische Kirche mit dem rapiden Mitgliederschwund und einem Desinteresse ihrer Gläubigen an religiösen Ritualen beschäftigt ist, sind viele Angehörige des Islams unter dem Titel der Religionsfreiheit gewillt, lautstark Rechte einzufordern, die im Spannungsverhältnis oder sogar im Widerspruch zur Laizität stehen. Wie bereits erwähnt, bedeutet die Infragestellung der Laizität in Frankreich auch die Infragestellung der traditionellen republikanischen Werte. Dies wiederum nutzen rechte Gruppierungen und Politiker, um Stimmung gegen Einwanderer und den Islam im Allgemeinen zu machen.

Die "Kopftuch"-Debatte ist dabei ein wiederkehrendes Thema: Rechte Politiker empören sich beispielsweise über das Vorhandensein einer Frau mit Kopftuch auf der Zuschauertribüne eines Regionalparlaments. Die zu dieser Zeit unabhängige "Beobachtungsstelle für Laizismus" widersprach den Beschwerdeführern und betonte, dass Privatpersonen, die den Staat nicht repräsentieren, in öffentlichen Einrichtungen religiöse Symbole tragen dürfen. In Frankreich wurde auch heftig darüber diskutiert, ob eine Mutter, die ihre Kinder auf einem Schulausflug begleitet, ihr Kopftuch abnehmen muss. Gleichzeitig reagieren linke Gruppen oft reflexartig und verurteilen Verteidiger der Laizität pauschal als islamophob und integrationsfeindlich. Wie so oft richtet sich die Kritik häufig auf die Person, und sachliche Argumente, wie die Tatsache, dass religiöse Symbole Konflikte und Diskriminierungen fördern und das kritische Denken behindern können, werden ignoriert, wenn sie von der "falschen" Person vorgebracht werden. Doch ist selbst "die Linke" in Bezug auf das Abaya-Verbot gespalten und Le Figaro berichtet von einer Umfrage, wonach bei den Sympathisanten der Sozialistischen Partei eine überwältigende Mehrheit von 75 Prozent das Abaya-Trageverbot in Schulen befürwortet.

Die in der französischen Verfassung und den Gesetzen verankerte Laizität ist eine Sache, der Säkularisierungsprozess in der Gesellschaft eine andere. Das Nationale Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien veröffentlichte im März dieses Jahres eine bemerkenswerte Erhebung unter 27.000 Menschen im Alter von 18 bis 59 Jahren: Im Zeitraum 2019/2020 bezeichneten sich 29 Prozent der Befragten als Katholiken, 10 Prozent als Muslime und 10 Prozent als Angehörige anderer Religionen, während die restlichen 51 Prozent angaben, keiner Religion anzugehören. Die Emanzipation von Religion ist aber nicht homogen in der Gesellschaft verteilt, sie korreliert stark mit der Migration: 58 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund über zwei Generationen gaben an, keine Religion zu besitzen, hingegen waren es nur 19 Prozent der Einwanderer, die erst nach dem 16. Lebensjahr einwanderten beziehungsweise 26 Prozent der Nachkommen von zwei Eltern mit Migrationshintergrund. Die Migranten selbst stellen auch keine einheitliche Gruppe dar, aber 91 Prozent der Menschen, die in einer muslimischen Familie aufwachsen, folgen der Religion ihrer Eltern. Die Studienautoren gelangten zum folgenden Schluss: "Unter ansonsten gleichen Bedingungen ist das Aufwachsen in einer Familie gemischter religiöser oder katholischer Abstammung ein Schlüsselfaktor im Säkularisierungsprozess unter den Nachkommen von Einwanderern."

Bei Einwanderern ist die Wahrscheinlichkeit, einer Religion anzugehören, proportional doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Einwandererabstammung. Diese Zahlen untermauern die Dringlichkeit der Problemstellung: Wie soll das laizistische Frankreich mit der Religion seiner Einwanderer umgehen? Soll es an seiner strengen Laizität festhalten oder ist es für den Frieden in der Gesellschaft notwendig, Zugeständnisse an die religiösen Bedürfnisse zu machen? Zynisch und für die aktuell aufgeheizte Stimmung wenig hilfreich ist die Ansage, dass sich das Problem früher oder später auf Grund der Einwanderungszahlen und der demographischen Entwicklung von selbst lösen wird.

Die Ansicht des EGMR

Das Tragen religiöser Symbole und die Ausübung religiöser Rituale im öffentlichen Raum sind Privatpersonen in Frankreich grundsätzlich nicht verboten, sondern fallen unter die als Menschenrecht garantierte Religionsfreiheit. Einschränkungen ergeben sich – wie bei anderen Menschenrechten auch – auf Grund der mit der "öffentlichen Ordnung" begründeten Ausnahmen.

Im Jahr 2011 erließ Frankreich ein Gesetz, das die Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum verbietet. Kritiker hatten von Beginn an das Gesetz als antimuslimisch verurteilt, weil nur ein kleiner Bruchteil der Musliminnen sich vollverschleiern würde. Lesenswert ist die Begründung, in der die Anwendung der Ausnahme mit der "öffentlichen Ordnung" gerechtfertigt wird:

"Das Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum zielt darauf ab, die Werte der Republik und des Zusammenlebens, vor allem im Sinne der Gesellschaftsregeln, dauerhaft sichern. […] Die Gleichheit von Mann und Frau in allen Lebensbereichen ist in der französischen Verfassung verankert. Für den Gesetzgeber bedeutet die freiwillige oder unfreiwillige Verschleierung des Gesichtes einen Bruch mit dem Gebot der Gleichheit, bei dem die Frau ausgeschlossen wird und eine unterordnete Rolle einnimmt. Diese ausschließende Verbergung wird empfunden als Ausdruck für den Rückzug einer Gruppe aus der Gesellschaft, bzw. für die Verweigerung, sich als Teil einer offenen Gesellschaft zu betrachten."4

In ihrem Urteil vom 1. Juli 2014 hielt die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) das französische Verhüllungsgesetz für menschenrechtskonform. Zwar wies der EGMR einen Teil der Argumente des französischen Staates zurück und hielt fest, dass die Gleichstellung zwischen Mann und Frau kein hinlängliches Motiv sei, um ein Verbot des Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum zu rechtfertigen, aber er erachtete das angefochtene Verbot mit Blick auf das Ziel, das "gesellschaftliche Zusammenleben" zu erhalten, für verhältnismäßig:

"So gesehen versucht der belangte Staat, einen Grundsatz der zwischenmenschlichen Kommunikation zu schützen, der seiner Ansicht nach essentiell für den Ausdruck nicht nur des Pluralismus ist, sondern auch der Toleranz und der geistigen Großzügigkeit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt. Es kann daher gesagt werden, dass die Frage, ob es erlaubt sein sollte, an öffentlichen Orten einen Gesichtsschleier zu tragen, eine Wahl der Gesellschaft darstellt."

Battlefield Schule

Es gibt keinen anderen Ort, an dem der Konflikt heftiger und unerbittlicher ausgetragen wird, als die Schule. Im Jahr 2004 erließ Frankreich unter Präsident Jacques Chirac ein Gesetz, das an öffentlichen Schulen, Hochschulen und weiterführenden Schulen das Tragen von religiösen Schildern und Kleidungsstücken generell verbietet. Lediglich dezente Anzeichen einer Religionszugehörigkeit sind seitdem noch erlaubt. Das Gesetz ist so verfasst, dass es auf alle Religionen angewendet werden kann. Zu den verbotenen Kleidungsstücken gehören laut einem Rundschreiben des Bildungsministeriums nicht nur der islamische Schleier, in welcher Form auch immer, sondern auch Jarmulke (Kippa) und ein übergroßes Kreuz. Auch auf das Auftauchen neuer Zeichen oder mögliche Umgehungsversuche soll mit dem Gesetz flexibel reagiert werden können.

Angesichts dieses Hintergrunds mag es auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, dass das ministerielle Verbot des Tragens von Abayas an Schulen, das mit Beginn des neuen Schuljahres im September in Kraft getreten ist, erneut zu hitzigen Diskussionen geführt hat. "Clementine Autain von der linkspopulistischen Partei LFI nannte das geplante Verbot 'verfassungswidrig' und warnte vor einer 'Kleiderpolizei' an den Schulen", berichtete der ORF. Die Diskussion entstand, nachdem muslimische Verbände protestiert und argumentiert hatten, dass die Abaya keine religiöse Kleidung sei, sondern lediglich eine traditionelle Form der Mode darstelle. Sie warfen den Schulleitern vor, die kulturelle Identität und Eigenständigkeit der Kinder zu ignorieren. Die Schulleiter waren mit den Diskussionen überfordert, und es kam zu unterschiedlichen Interpretationen, ob eine Abaya getragen werden darf. Daher griff Bildungsminister Gabriel Attal per Erlass ein und entschied, dass die Gewänder, ebenso wie der Qamis, ein Überwurf für Männer, an Schulen von nun an verboten sind.

Damit hat der Bildungsminister zunächst rechtliche Klarheit geschaffen. Ob er damit zum gesellschaftlichen Frieden im Land beigetragen hat und ob das Verbot bei einer Anfechtung vor den Gerichten hält, wird die Zukunft zeigen.

Unterstützen Sie uns bei Steady!

  1. Zitiert in „Le port de l’abaya interdit à l’école: Gabriel Attal clarifie la situation“, Sylvie Lecherbonnier in LeMonde am 28.08.2023. ↩︎
  2. Siehe § 2b Abs. 1 Religionsunterrichtsgesetz, StF: BGBl. Nr. 190/1949 idgF BGBl. I Nr. 138/2017. ↩︎
  3. Vgl. die vom „Institut national de la statistique et des études économiques“ publizierte und auf der Webseite des Instituts als pdf- und Exzel-Datei abrufbare Studie „La diversité religieuse en France : transmissions intergénérationnelles et pratiques selon les origines“. ↩︎
  4. Information der französischen Botschaft in Wien, abrufbar auf der Webseite der Botschaft. ↩︎