BERLIN. (hpd) „Ich will wissen, warum ich nicht eingeschult worden bin, warum ich während dieser Zeit im Krankenhaus war und warum ich danach wieder laufen lernen musste ...“ deutliche Worte von Margarete Böttcher. Ein ehemaliges Heimkind. Jetzt spricht sie und geht auf die Demonstration.
Margarete Böttcher ist eines der „etwa 700.000 bis 800.000 Kindern und Jugendlichen“, die von 1949 bis 1975 in Heimen der Bundesrepublik Deutschland lebten. 65 % der Heime waren in kirchlicher Verantwortung. Insofern war sie, katholisch getauft, eines von 460.000 bis 520.000 Kindern in "christlichen Heimen".
Also ein Schicksal von vielen, über die der im Februar 2009 gegründete so genannte ,Runde Tisch‘ die Aufgabe zur Klärung darüber bekommen hat, wie es weiter gehen soll und ob es zu einer Auseinandersetzung zwischen den gewichtigen Interessen am ,Runden Tisch‘ und den in den Heimen gedemütigten Menschen kommen darf und das geht nur, wenn „.... Regierung, Parlament und die Landesjugend-Ministerkonferenz bewegt werden können, ihre Verantwortung zu übernehmen. Auf der Pressekonferenz zur Vorlage des Zwischenberichtes lagen die Zusagen der Bundes- und Länderregierung deutlich hinter denen zurück, die die Kirchen längst gemacht hatten“, so der Erziehungswissenschaftler Prof. Manfred Kappeler in einer Stellungnahme zum Zwischenbericht.
Stimmen, die bisher weniger mediales Interesse weckten, hatten sich zu Wort gemeldet. Im Jahr 2004 gründete sich der Verein ehemaliger Heimkinder (VeH). Zur Vorbereitung der Demonstration am kommenden Donnerstag in Berlin haben sich in einer ‚Freien Initiative’ zahlreiche weitere Unterstützer, Interessengruppen und Einzelpersonen zusammengefunden. Dies alles sind Aktivitäten, die sich nicht nur auf die Bundesrepublik beschränken.
Schauen wir nach Irland, in die USA. Dort haben vor kurzer Zeit Gerichte zur Wiedergutmachung Zahlungen an die überlebenden Opfer festgelegt, die hier in der Bundesrepublik, ich möchte einfach einmal sagen, bei der Mehrzahl der Menschen verständnisloses Kopfschütteln verursacht haben. Bezogen auf Deutschland wäre das eine vermutliche Summe von rund 25 Mrd. €.
Zurück zu Margarete Böttcher. Im Jahr 1950 geboren in Benningsen bei Hannover ist sie eines der ehemaligen Heimkinder, das zu sprechen begonnen hat. Sie blickt zurück auf 16 Lebens-Jahre in drei Berliner Heimen.
Im November 2009 traf ich sie erstmals und dann mehrmals wieder. „Wir“ und damit meint Margarete die Mehrzahl der Heimkinder, „haben nie gelernt zu sprechen, zu diskutieren, uns zur Wehr zu setzen“. Gleichzeitig macht sie klar, glücklich darüber zu sein, jetzt wieder flüssig sprechen zu können, das ehemalige Stottern verloren zu haben. Während der Recherche erfuhr ich auch, dass auch zwei Professoren und weitere promovierte Wissenschaftler auf ein Heimkinder-Schicksal aufbauten, das sich keiner von uns für seine Kinder wünscht. Oder?
Aus einem Schreiben vom 7.9.1965 (Sancta Maria an das Bezirksamt Neukölln von Berlin) geht folgendes hervor: „Margarete wurde mit ihren Geschwistern im Hauptkinderheim aufgenommen weil die Kindesmutter obdachlos war als sie zu diesem Zeitpunkt mit den Kindern aus der SBZ nach Berlin zuwanderte. Am 22.8.1955 konnten alle Geschwister in das Kinderheim St. Hedwig, Berlin Kladow verlegt werden.“ Unter der Leitung der Hedwigschwestern in Berlin-Kladow, Sakrower Kirchweg besteht dieses Heim nach wie vor.
Und weiter dem offiziellen Schriftwechsel entnommen: Nach der grundsätzlichen Einweisung im Alter von 5 Jahren „ ... machte Margarete die altersbedingte Umsetzung....“ in das heute so genannte SANCTA MARIA Institut der Hedwigschwestern e.V. mit, das 1965 also zum „Umzug“ von Margarete noch schlicht als Kinderheim Santa Maria, Berlin-Wannsee, Dreilindenstraße 24-26 firmierte. Von dort bestimmte das Bezirksamt Berlin die„Überweisung“ der damals dann 15-jährigen Margarete in das ,Haus Konradshöhe‘, ein Heim für schwer Erziehbare. Das Sagen hatten hier die Hiltruper Schwestern. Hier traf Margarete zufällig auf ihren Bruder und eine ihrer Schwestern.
Bestrafungen, Missachtung, Misshandlungen, Schläge, in einem Heim sexueller Missbrauch durch eine Nonne, so schilderte es Margarete Böttcher Anfang März 2010 auch öffentlich. Dazu gibt es ein Interview mit Prof. Manfred Kappeler und eine Erklärung der Hedwigschwestern.
Kindheit und Auswirkungen
Allerdings - und das ist besonders beachtenswert – bereits vor Jahren begann sie, das ehemalige Heimkind ohne jede Protektion, ganz still von sich aus und mit Hilfe ihres Ehemannes einen Diskurs aufzunehmen, um die erlittenen Kränkungen aufzuarbeiten. In Zeugengegenwart ging sie in die Heime, bat um Gespräche, forderte Aufklärung und Akteneinsicht. ,Man‘ und auch eine Generaloberin blieben ausweichend, erinnerten sich nicht gut oder gerne und nie, wie es jetzt gesagt wird, ,unterstützend und aufklärend‘. Eher wurde Margarete Böttcher abgewiesen mit Worten wie, so schlimm seid ihr Kinder doch gar nicht gewesen. Bei einem anderen Besuch hieß es, „... ja, das kann nur Schwester --- gewesen sein, auch von anderer Seite ist so erzählt worden.“ Bei Margarete Böttcher brannte sich das Gesprochene ein und so auch diese Worte von einem Mitglied der Leitungsebene: „Machen Sie mir mein Heim nicht kaputt.“
Sie versuchte auch, den Papst auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. „Aus dem Vatikan, am 22. September 2008“ bestätigte der Assessor Msgr. Gabriel Caccia, Staatssekretariat, Erste Sektion. Allgemeine Angelegenheiten, ich zitiere: „Sehr geehrte Frau Böttcher! Das Staatssekretariat des Heiligen Stuhls bestätigt Ihnen den Eingang Ihres an den Privatsekretär Seiner Heiligkeit, Prälat Dr. Georg Gänswein, gerichteten Schreibens vom 2. August dieses Jahres, mit dem Sie persönliche Gedanken und Erwägungen im Zusammenhang mit dem Schicksal von Heimkindern in der Nachkriegszeit vortragen. Ihre Ausführungen wurden aufmerksam zur Kenntnis genommen. Papst Benedikt XVI. schließt Sie und Ihre Geschwister gerne in sein Gebet ein und erbittet Ihnen Gottes reichen Segen für Ihren weiteren Lebensweg. Mit besten Wünschen und freundlichen Grüssen...“
Das Geschilderte war also weit vor dem Februar 2010 bekannt. Bereits im März 2008 gibt es einen Schriftwechsel mit dem Haus Sancta Maria Berlin-Wannsee. Auch die breite Öffentlichkeit kommt nicht umhin, wahrnehmen zu müssen was im Namen des Rechtes geschehen ist und auch in dem Zwischenbericht „Runder Tisch“ unbestritten ist, das und in welcher Form brutal Hand an Kinder gelegt wurde.
Da haben wir uns Fragen zu stellen. Eine davon lautet, werden wir erst wach, wenn die Elite betroffen ist?
Seit Jahren verhöhnt? - so erscheint die aktuelle Erklärung der Hedwigschwestern vom 5. März 2010. Als deren beauftragter Rechtsanwalt im März 2010 Margarete Böttcher zu einem Gespräch, einem so genannten „Kreuzverhör“ einlud und dafür einen Zeitrahmen von drei Stunden veranschlagte, rang sie wieder mit sich. Nahe war ihr, dem Ruf der ehemaligen ErzieherInnen Folge zu leisten. „Ich will es hinter mich bringen“, waren ihre Worte, bis der behandelnde Psychologe klar einen Riegel vorschob.
Margarete Böttcher geht wie auch andere Heimkinder tapfer ihren Weg. Es gilt, Überlebenden Mut zu machen, die noch aus Angst schweigen. Für andere zu sprechen, die im Gefängnis sitzen oder nicht mehr leben, Peinigern und Peinigerinnen in die Augen zu schauen, Aufklärung und Wiedergutmachung zu fordern.
Am 15. April geht Margarete Böttcher mit in der ersten Reihe, um das Motto der Demonstration zu tragen „Jetzt-reden-wir“.
Evelin Frerk
hpd-video „Seit Jahren verhöhnt“
29.11.2009: Margarete Böttcher auf dem Gelände von Sancta Maria Berlin Wannsee (oben) und im Haus Konradshöhe (unten). Die ihr damals bekannten Räume sind zu einer Wohneinheit umgebaut. Die Fotografie war gestattet.
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