(hpd) Der Sammelband „Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte“ beklagt einen Rückgang der Tabuisierung der Judenfeindschaft und eine Renaissance einschlägiger Vorurteile bei der Kommentierung des Nahost-Konflikts. Auch wenn im letztgenannten Sinne nicht alle Analysen unbedingt nachvollziehbar sind, weisen die Texte doch zutreffend auf eine bedenkliche Wiederkehr antisemitischer Stereotype in Alltagsdiskursen hin.
Antisemitismus findet man nicht nur bei Randgruppen wie Rechtsextremisten, sondern zunehmend auch wieder in der Mitte der Gesellschaft. Diese Beobachtung motivierte die Durchführung eines internationalen Symposiums zum Thema, das im April 2009 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfand. Nun liegen die dort gehaltenen Vorträge in Form von wissenschaftlichen Aufsätzen in einem Sammelband mit dem Titel „Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte“ vor.
Dessen Herausgeber, die Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel und die Historiker Evyator Friesel und Jehuda Reinaharz, bemerken im Vorwort, sie wollten damit dem „Neuen“ am „Neuen Antisemitismus“ nachspüren: Dies bestehe darin, dass man erstens Judenfeindschaft nicht mehr nur bei Rechtsextremisten ausmachen könne, zweitens Israel als dessen primäre Projektionsfläche diene und drittens die Hemmschwelle zur öffentlichen Artikulation des Antisemitismus gesunken sei (vgl. S. 3).
Die elf Beiträge widmen sich den unterschiedlichsten Schwerpunkten: Wolfgang Benz und Monika Schwarz-Friesel analysieren jeweils gesondert Briefe an jüdische Einrichtungen als Ausdrucksformen alltäglichen Antisemitismus, und Samuel Salzborn präsentiert die Ergebnisse einer qualitativen Studie zu antisemitischen Schuldprojektionen. Antizionismus und Israelkritik bei der deutschen Linken bzw. der Verbal-Antisemitismus in aktuellen Leserbriefen stehen bei Martin Kloke bzw. Holger Braune im Zentrum des Interesses. Esther Schapira und Georg M. Hafner gehen auf die Medienberichterstattung zum Nahostkonflikt und Robert Beyer und Eva Leuschner auf antisemitische Äußerungsformen in TV-Diskursen ein. Vergleiche des Antisemitismus in Deutschland und Großbritannien bzw. den USA ziehen danach Helga Embacher und Margit Reiter bzw. Jehuda Reinharz. Und schließlich geht es bei Evyatar Friesel um aktuelle Judeophobie von einzelnen jüdischen Intellektuellen und bei Andreas Zick um den aktuellen Antisemitismus im Spiegel von Umfragen.
Bilanzierend bemerken die Herausgeber im Vorwort: „Der Antisemitismus heute kommt ... ‚von unten’, aus der Mitte der Bevölkerung und wird gerade gegen die offizielle und öffentliche Haltung der Bundesregierung populistisch kommuniziert und als eine Art ‚außerparlamentarischer Widerstand’ konzeptualisiert und instrumentalisiert. Es gibt aber eindeutige Indikatoren dafür, dass dieser ‚subversive’ und bislang primär privat kommunizierte Antisemitismus die öffentliche Diskursebene erreicht hat und dort auf ein hohes Maß an Akzeptanz bzw. Gleichgültigkeit stößt . Die Tabuisierung antisemitischer Äußerungen ist in unserer Gesellschaft auf ein auffallend niedriges Niveau gesunken. Bestimmte Typen von Antisemitismus, die bisher fast ausschließlich im rechtsextremistischen Sprachgebrauch vorkamen und in der Regel öffentlich sanktioniert wurden, haben sich mittlerweile auf nahezu allen Ebenen der Gesellschaft im öffentlichen Kommunikationsraum ausgebreitet ...“ (S. 4).
Die Autoren und Herausgeber nehmen in ihren Analysen keineswegs eine pauschale Gleichsetzung von Antisemitismus und Israel-Kritik vor. Schon zu Beginn formuliert man dazu auch Kriterien zur Unterscheidung von „Anti-Israelismus“ und „Israel-Kritik“ (vgl. 5). Innovativ wirken auch die sprachanalytischen Untersuchungen, welche Diskurse bezüglich des Bedeutungsgehalts und der Subbotschaften kritisch betrachten. Hier und da wäre aber auch zu bedenken: Nicht jede einseitige, schiefe und wirklichkeitsfremde Israel-Kritik muss antisemitisch motiviert sein. Häufig spielt auch das schlichte Nicht-Wissen um die Komplexität des Nahostkonflikts und das Sicherheitsinteresse des Staates eine wichtige Rolle. Hier bedarf es sicherlich immer wieder eine genaue Analyse der eigentlichen Motive für die jeweiligen Behauptungen. Zu einschlägigen Diskussionen und Reflexionen laden alle Beiträge immer wieder ein, wofür auch die Texte zur Agitation israelfeindlicher Positionen durch jüdische Intellektuelle oder zu Medienberichten über Israel Ansatzpunkte liefern.
Armin Pfahl-Traughber
Monika Schwarz-Friesel/Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz (Hrsg.), Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte, Berlin 2010 (Walter de Gruyter-Verlag), 254 S., 49,95 €