Gefahren entwurzelter Religionen

(hpd) Der französische Islam-Experte Olivier Roy will in seinem neuesten Buch „Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen“ den Wandel der Religionen im Lichte von Globalisierung und Säkularisierung untersuchen. Bei  beachtenswerten Darstellungen und reflexionswürdigen Einschätzungen im Detail, fehlt es der Studie doch an der notwendigen Klarheit und systematischen Struktur bei der allgemeinen Analyse zum Spannungsverhältnis von Kultur und Religion.

Lange Zeit bestand in der Öffentlichkeit und den Sozialwissenschaften ein breiter Konsens darüber, dass mit der Modernisierung der Gesellschaften weltweit auch eine tendenzielle Säkularisierung einhergehen würde. Mittlerweile spricht man demgegenüber aber von einer Rückkehr der Religionen. Dies gilt nicht nur für die arabische bzw. islamische Welt: Der protestantische Evangelikalismus erlebt in Brasilien und Westafrika einen außerordentlichen Aufschwung, der fundamentalistische Salafismus findet in vielen jungen Europäer neue Anhänger, und in Mittelasien wollen Zigtausende Muslime Christen oder Zeugen Jehovas werden. Den Gründen für diese Entwicklung will der französische Sozialwissenschaftler Olivier Roy, ausgewiesener Kenner des politischen Islam und des Nahost-Konflikts und Professor am Robert Schuman Zentrum des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz, in seinem neuesten Buch „Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religion“ allgemein bezogen auf die Entwicklung von Religionen nachgehen.

Darin konzentriert er sich auf das Spannungsverhältnis zwischen der Moderne durch Säkularisierung und die Rückkehr der Religionen. Im ersten Teil steht das Wechselspiel von Kultur und Religion im Zentrum des Interesses. Der zweite Teil widmet sich dem Zusammenhang von Globalisierung und Religion. Roy behauptet dabei aber nicht eine Renaissance des Glaubens in seiner bekannten Form: Vielmehr habe die Globalisierung zu einer Entkopplung der früher üblichen Einheit von Kultur, Nation und Religion geführt. Die damit verbundene Abkehr von festen Identitäten und traditionellen Milieus bedinge, dass sich Individuen im Rahmen einer entwurzelten Sinnsuche ihre eigenen Glaubensvorstellungen zusammen konstruierten. Dafür habe sich mittlerweile ein ganz unterschiedlich ausgestatteter Markt mit vielfältigen Angeboten zur Befriedigung von spirituellen Wünschen entwickelt. Dies macht für Roy die unmittelbare Zukunft der Religionen aus, welche sowohl von gegenseitiger Abschottung wie Konkurrenz geprägt sei.

Bilanzierend heißt es: „Die Säkularisierung hat das religiöse nicht ausgelöscht. Sie hat das Religiöse aus unserer kulturellen Umwelt herausgelöst und lässt es dadurch gerade als rein Religiöses in Erscheinung treten. Tatsächlich hat die Säkularisierung funktioniert: Was wir erleben, ist die militante Neuformulierung des religiösen in einem säkularisierten Raum, die dem Religiösen seine Autonomie und damit die Bedingungen für seine Ausbreitung gegeben hat. Säkularisierung und Globalisierung haben die Religionen gezwungen, sich von der Kultur abzulösen, sich als autonom zu begreifen und sich in einem Raum neu zu konstituieren, der nicht mehr territorial und damit nicht mehr der Politik unterworfen ist“ (S. 20). Und weiter: „Es besteht ein enges Band zwischen Säkularisierung und religiösem Wiedererweckungsglauben; Letzter ist nicht Abwehr der Säkularisierung, sondern ihr Produkt. Die Säkularisierung bringt das Religiöse hervor. Es gibt keine ‚Rückkehr’ des Religiösen, sondern eine Veränderung“ (S. 21).

Roy erweist sich auch in „Heilige Einfalt“ als guter Kenner der Materie: Zum einen liefert er eine Fülle von interessanten Beobachtungen zur Entwicklung des Religiösen, welche bislang noch nicht genügend Aufmerksamkeit fanden. So betont der Autor etwa auch, dass „Al Qaida die ‚islamische’ Bewegung mit dem höchsten Anteil von Konvertiten ist ... und die einzige, die ihnen Verantwortung übertragen hat“ (S. 39). Zum anderen verknüpft er diese Darstellungen immer wieder mit interessanten Deutungen über die Hintergründe und Wirkungszusammenhänge. Dabei zeigt sich aber erneut eine Schwäche von Roys früheren Bücher in weitaus höherem Maße: Klare Analysen und systematische Strukturierung gehören nicht zu seinen Stärken. Außerdem werden die im Titel der deutschen Übersetzung angegebenen Aspekte, einerseits die „heilige Einfalt“, andererseits die „politischen Gefahren“ nicht klar dargestellt und systematisch herausgearbeitet. Dies mindert letztendlich auch den Erkenntnisgewinn und das Vergnügen der Lektüre.

Armin Pfahl-Traughber

 

Olivier Roy, Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, München 2010 (Siedler-Verlag), 335 S., 22,95 €
 

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.