(hpd) Ein Geheimarchiv enthüllt die Wahrheit über die Finanz- und Politskandale in der Zentrale der katholischen Kirche. Ein Buch, das keinem militanten Antiklerikalismus das Wort redet, sich also nicht von vornherein selber diskreditiert, war für die geistlichen Herren im Vatikan ein Schock. Alle Dokumente waren echt und belegt.
Als in den 1980er Jahren die Banco Ambrosiano zusammenbrach, in deren Folge zwei Bankiers tot ‚aufgefunden’ worden waren, wurde immer deutlicher, dass es sich dabei um ‚schmutzige Geschäfte’ handelte und der Vatikan in die Sache verwickelt war. Versuche, Licht in die Sache zu bringen, scheiterten an der Mauer des Schweigens des Vatikans. Es wurde viel spekuliert. Das Buch des italienischen Journalisten Gianluigi Nuzzi ändert dies. 2008 erhält er Zugang zu einem Archivbestand, von dem bis dahin nichts bekannt war.
Das Buch und seine Wirkung
Seit Mai 2009, als "Vaticano S.p.A." in Italien erschien und binnen weniger Monate 250.000 Mal verkauft wurde, ist im Vatikan nichts mehr, wie es einmal war. Der Heilige Stuhl hat einschneidende Veränderungen vorgenommen, zu denen ihm das gesamte 20. Jahrhundert stets der Mut fehlte. So wurde beispielsweise der Bankier Angelo Caloia nach 20 Jahren an der Spitze des IOR vorzeitig "entlassen". Damit wurde einer der Protagonisten dieses Buches entmachtet und musste eineinhalb Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit seinen Posten räumen. In Zukunft wird das IOR, das mehr als fünf Milliarden Euro Ersparnisse von Orden, kirchlichen Einrichtungen und Diözesen weltweit verwaltet und die Gewinne daraus unmittelbar dem Papst zur Verfügung stellt, keine Offshore-Bank mehr sein, die außerhalb jeglicher Kontrollvorschriften steht und ihren Mitarbeitern Straffreiheit zusichert, wie es noch zur Zeit der Finanzskandale um Roberto Calvi, Paul Marcinkus und Michele Sindona der Fall war. Nach Unterzeichnung einer Währungsvereinbarung mit der Europäischen Union unterliegt der Vatikan nunmehr den in der EU geltenden Gesetzen zur Verhinderung von Geldwäsche. Eine epochale Wende, die von der internationalen Presse, allen voran die "Financial Times", auf die brisanten Enthüllungen dieses Buches zurückgeführt wurde. ... (S. 21)
Das Enthüllungsbuch "Vaticano S.p.A." kam für die Kirchenhierarchie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das Auftauchen des Archivs von Monsignor Renato Dardozzi, die Auswertung sämtlicher Dokumente und deren Veröffentlichung im Rahmen eines Buchs, das keinem militanten Antiklerikalismus das Wort redet, sich also nicht von vornherein selber diskreditiert, war für die geistlichen Herren im Vatikan ein Schock, ein echtes Trauma. Doch dann erkannten die engsten Mitarbeiter Papst Benedikts XVI. darin eine einmalige Chance, die es zu nutzen galt...
Tatsächlich wurde das Buch im Vatikan genau unter die Lupe genommen, um auf die darin erhobenen Vorwürfe mit einer klaren Strategie zu reagieren. Und diese Strategie bestand in einem großen Schweigen. Es gab keine offenen Angriffe, keine Verteufelungen, nur absolutes Stillschweigen; keine aggressiven medialen Verlautbarungen, keine Kampagnen gegen dessen Glaubwürdigkeit: "Vaticano S.p.A." wurde nicht auf den Index gesetzt.
Die einzige wirksame Waffe gegen dieses Buch schien, es stillschweigend zu übergehen und auf diese Weise zu verhindern, dass darüber gesprochen wurde. Journalisten, die zur Präsentation eingeladen worden waren, setzte man unter Druck, ihre Teilnahme abzusagen. Es wurden haltlose Gerüchte gestreut, etwa, der Verlag habe das Buch wegen drohender Strafanzeigen zurückgezogen. Dabei ist niemand gegen dieses Buch gerichtlich vorgegangen. Bischöfe und Kardinäle wie Rino Fisichella waren nicht bereit, öffentlich über das Buch zu diskutieren, denn damit hätte man es ja zur Kenntnis genommen. Bis zum heutigen Tag, nach rund 100 Präsentationen in ganz Italien, waren nur zwei Geistliche bereit, an Diskussionsveranstaltungen über "Vaticano S.p.A." teilzunehmen: ein Priester aus Trani in Apulien und ein weil über 70-jähriger Franziskanerpater aus Fano in den Marken, der sich unter Verweis auf den heiligen Franz von Assisi über den Rat seiner Diözese hinwegsetzte.... (S. 23)
Sicher, es gibt keinen schlüssigen Beweis dafür, dass in diesem raffinierten Sabotagespiel irgendjemand die Strippen zog. Wie ein solches Spiel im Detail funktioniert, kann nur verstehen, wer selber in Italien lebt - einem Land, in dem bis heute ehrfürchtige Unterwürfigkeit das Verhalten gegenüber dem Klerus bestimmt. Und genau darin liegt die eigentliche Macht der Kirche in Italien: in jener ungreifbaren Konditionierung. Wenn es keine konzertierte Aktion war, umso schlimmer. Bedeutet es doch, dass eine jeder demokratischen Verfasstheit unwürdige Selbstzensur gegenüber der Kirche wirksam ist, die automatisch greift. ... (S. 23)