Die Hölle mit Seitennischen

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Waldemar Vogelgesang. Fotos: Fiona Lorenz

TRIER. (hpd) Dr. Waldemar Vogelgesang kann man das Verdienst anrechnen, die Veröffentlichung der „Geschichte einer geraubten Kindheit“ des ehemaligen österreichischen Heimkindes Jenö Alpár Molnár maßgeblich herbeigeführt zu haben. Der hpd sprach mit dem Soziologen über geschlossene Institutionen, Gewalt und Widerstand, Entschädigungen für Heimkinder, Gründe für die Pionierleistungen Molnárs und den Vorreiter Österreich.

Dr. habil. Vogelgesang ist Soziologe an der Universität Trier und hat unter anderem Jugendliche, Hooligans, Aussiedler, „abweichenden Videokonsum“ wie auch die „Situative Vergemeinschaftung mittels religiöser Hybridevents: Der XX. Weltjugendtag 2005 in Köln“ (mit) beforscht. Vogelgesang fand das Manuskript zur „geraubten Kindheit“ durch Zufall in Molnárs Copyshop. Nach der Lektüre war ihm klar, dass es sich um „eine sehr authentische Schilderung einer Leidensgeschichte handelt, aber mit positivem Ausgang. Man hat sehr früh den Eindruck gewonnen, dass er beim Schreiben den Druck, der durch das Erinnern wieder entstanden ist, gleichzeitig bewältigt.“ Er meldet den Eindruck an den Autor zurück, es handele sich um ein historisches Dokument, Molnár sei Zeitzeuge, indem er eine Situation auf eine Art ins Gedächtnis rufe, die man nicht vergessen solle.

Die Hölle, das sind die anderen

Bereits vor zwei Jahren gab es die Missbrauchsdebatte, zu dieser Zeit befand sich der Runde Tisch der Heimkinder noch in den Anfängen. Nach Ansicht Vogelgesangs beschrieb Molnár die Situation im Heim so, „wie das für geschlossene Einrichtungen in einer Form gilt, die Sartre beschrieben hat: ‚Die Hölle, das sind die anderen’ - in der Tat war das meine Lesart –, aber eine Hölle mit kleinen Seitennischen, die dafür gesorgt haben, dass es Rückzugsbereiche in dem Heim gab, in denen er a) den Nachstellungen dieser (verantwortlichen) Schwester Margit nicht ausgesetzt war und b) teilweise auch diesen rivalisierenden Gruppen, vor allem nicht diesem Grüppchen, das ihn vergewaltigt hat. Das ist die traumatischste Erfahrung, die er gemacht hat: Neben den Schikanen und täglichen Repressionen war die Vergewaltigung das Einschneidendste, das er erlebt hat. So was kann man wahrscheinlich auch nie bewältigen. Sondern man kann sich daran erinnern und findet hoffentlich im Laufe der Zeit soviel Distanz dazu, dass diese Erfahrung einen nicht lähmt.“

Es war zu erwarten, dass das Buch innerhalb der Heimkinderdebatte eine Resonanz auslöst und die Frage kam auf, wie Molnár mit dieser Resonanz umginge. Vogelgesang plädierte dafür, nicht nur an eine Leseöffentlichkeit zu gehen, sondern auch an eine Höreröffentlichkeit, um zu sehen, wie der Autor mit den Reaktionen, die dann kämen, umginge. So entstand die Idee der Lesung auf einem Podium in der Volkshochschule Trier mit Psychologen, Pädagogen, Juristen, dem Soziologen Vogelgesang und Jenö Alpár Molnár als Mittelpunkt der Veranstaltung. Während der Diskussion wurde, so Vogelgesang, „deutlich, dass die Distanz zum Thema nicht so groß war wie vermutet. Nach einer halben Seite musste er das Lesen abbrechen und ein Kollege las für ihn weiter. Aus seiner Reaktion auf die Lektüre der eigenen Erfahrungen und der Welle der Anteilnahme, der positiven Resonanz, die ihm daraufhin aus dem Publikum entgegengebracht wurde, wurde klar: Das kann eine Unterstützung bei der Bewältigung dieser traumatischen Erfahrungen sein.“

Daraufhin beschloss man den Versuch, einen Blick über die Landesgrenzen nach Österreich zu werfen, ob es dort irgendeine Form der Vergangenheitsbewältigung gäbe. So entstand die Idee, in Wien und anderen österreichischen Städten solche Lesungen zu machen, mit Experten aus dem Land, nämlich dem Sozialhistoriker Horst Schreiber und Michael John, beide sind „exzellente Kenner der Heimsituation. John hatte bereits im Jahre 2006 eine Ausstellung gemacht, ‚Wegscheid’, das war eines der härtesten Erziehungsheime der Nachkriegszeit. Die Ausstellung wurde allerdings nur drei Mal gezeigt und danach zurückgezogen, weil ehemalige Heimleiter gegen Herrn John wegen kollektiver Verleumdung geklagt haben. Man hat der Klage stattgegeben, die Reaktion war das Einmotten der Ausstellung.

Das Schöne ist: In Österreich hat Molnár eine Resonanz erfahren... Ich kenne keine entsprechende Resonanz eines Deutschen, der hierzulande eine entsprechende Aufmerksamkeit erfahren hat. Er war im Profil, das mit unserem Spiegel vergleichbar ist, in vielen Tageszeitungen und Talkshows. Und das hat dazu geführt, dass in Österreich etwas Anderes mit den Missbrauchsopfern und den geschädigten Heimkindern passiert als bei uns.“

Deutsch-österreichische Unterschiede und deren Ursachen

Nach Ansicht Vogelgesangs hat man „in Deutschland wie immer versucht, die Wiedergutmachung zu institutionalisieren. Die Einrichtung heißt ‚Runder Tisch’. Aber das ist eine typisch bürokratische Einrichtung, man hat sich lange gestritten, wer überhaupt am Runden Tisch Platz nehmen darf. Damit sind sie seit gut anderthalb Jahren zugange und haben erst einen vorläufigen Endbericht geschafft, der noch nicht abgesegnet ist. Aus dem sollen dann Schlussfolgerungen über mögliche Hilfen gezogen werden – man hat schon Hilfen angeboten in Form von Sorgentelefon oder Therapieplätzen, auch verbunden mit Entschuldigungen. Bis dato nur von kirchlicher Seite, nicht von staatlicher Seite, Frau Merkel hat sich bis heute dazu nicht geäußert. In Österreich geht man den verkürzten Weg, und das finde ich für die Betroffenen sehr viel besser. Man hat in Deutschland gesehen, dass für die Heimkinder, die jetzt zwischen 60 und 70 Jahren alt sind, das Verfahren zu einem regelrechten Spießrutenlaufen geführt hat. Denn auf der einen Seite gab es Unterstützer, auf der anderen Seite gab es aber Bedenkenträger, die der Meinung waren, man muss schon minutiös nachweisen, wie die Situation im Einzelfall in dem jeweiligen Heim war. Und das hat dazu geführt, dass die traumatischen Erinnerungen bei manchen nochmals hochkamen und sie damit nicht umgehen konnten.“

Vogelgesang weiter: „Dass sich der Verband ehemaliger Heimkinder in Deutschland zerstritten hat, der Vorstand ausgewechselt wurde, ist meines Erachtens eine Reaktion darauf, dass die Hilfe hier bürokratisiert wurde. In Österreich scheint mir das einen Weg zu nehmen, der sehr viel betroffenenfreundlicher ist: Man strebt die direkte Hilfe an, man strebt die Hilfe an, wo es nicht zu Einzelfallprüfungen kommt, sondern wo der Nachweis genügt, dass die entsprechende Person für eine bestimmte Zeit in einer Erziehungseinrichtung war. Damit rechtfertigt sich schon der Hilfsanspruch, möglicherweise auch der Entschädigungsanspruch, dazu gibt es allerdings noch keine konkreten Zahlen. Tirol wird wohl hier die Vorreiterrolle übernehmen und alle Experten sagen, das, was in einem Bundesland entschieden wird, wird maßgeblich sein für die Regelungen, die in den anderen Ländern gefunden werden. Da verdient Molnár großen Respekt, denn durch ihn ist ein regelrechtes Netzwerk von Betroffenen entstanden, das er mitorganisierte. Er hat in Österreich eine Pionierleistung erbracht für die öffentliche Wahrnehmung der Heimkinder aus der Nachkriegszeit und gleichzeitig auch eine politische Auseinandersetzung, verbunden mit Forderungen nach Wiedergutmachung, in Gang gesetzt. Das bestätigt im Nachhinein den Weg, den er gewählt hat: an die Öffentlichkeit zu gehen. Für ihn persönlich ist das eine Aufmunterung, weiterzumachen.“

Wie befördern geschlossene Institutionen Gewaltsysteme?

Ein Heim ist insofern eine geschlossene Institution, als es sich um eine kleine Lebenswelt handelt, „ummauert, vergittert, hierarchisch organisiert, mit Züchtigungsrechten der betreuenden Personen, wenig Rückzugsmöglichkeiten und teilweise drakonischen Strafen für Bagatellvergehen - heute kann man sich Begriffe wie ‚Korrektionsbaracke’ schon gar nicht mehr vorstellen – für Tage, manchmal Wochen, wurden die Kinder in Einzelhaft gehalten, mit spartanischer Kost. Das erinnert ein bisschen an Stammheim, an Isolationsfolter. Und das waren ja Kinder! Das ist etwas Typisches für diese Einrichtungen: dass man ihnen regelrecht ausgeliefert ist. Man steht unter einer Dauerbeobachtung, und zwar jeden Tag.“

„Es ist nicht ganz so schlimm wie in einem Gefängnis - man muss keine Anstaltskleidung tragen, man hat also schon Privatkleidung. Aber das nutzt einem nicht viel, wenn diese kontrolliert wird, wie das bei (der verantwortlichen) Schwester Margit der Fall war, um irgendwelche Spermaspuren nachzuweisen, immer vor versammelter Mannschaft, um zu diskreditieren, zu beschämen. Das sind Mechanismen der Unterdrückung, die sehr rabiat, sehr drakonisch sein können, wie Isolationsmaßnahmen auf der einen Seite, und andererseits sehr subtil, was die täglichen Kontrollen betrifft und, bei Auffälligwerden: die öffentliche Brandmarkung. Ein Fehltritt wird immer so geahndet, dass alle anderen davon auch mitbekommen, die Strafe wird öffentlich vollzogen und damit wird derjenige für sein Vergehen ein zweites Mal bestraft, indem er nicht nur gezüchtigt, sondern auch noch der öffentlichen Schande preisgegeben wird. Diese Mechanismen greifen hier ineinander und sorgen dafür, dass die Einrichtung einen Zwangscharakter, einen Kontrollcharakter hat.“