Das neue Buch von Ruud Koopmans

Dilemmata und Fehler europäischer Flüchtlingspolitik

fluechtlinge_mittelmeer_operation_triton.jpg

Der Berliner Migrationsforscher Ruud Koopmans wirft in "Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg" einen differenzierten und kritischen Blick auf die benannte politische wie soziale Problematik. Dabei gelingt es ihm in anschaulicher Darstellung und verständlicher Schreibe, viele kursierende Einseitigkeiten und Klischees der unterschiedlichsten Seiten im aufklärerischen Sinne zu hinterfragen.

Die europäische Flüchtlingspolitik ist gekennzeichnet von Absurditäten, Fehleinschätzungen, Inkonsequenzen, Widersprüchen. Derartige Einschätzungen können als schlichte Schimpfkanonaden wahrgenommen werden. Gleichwohl gibt es gute Gründe für solche Wertungen, erfolgt ein differenzierter Blick auf die unterschiedlichsten Kontexte. Einen solchen nimmt in seinem neuen Buch prägnant Ruud Koopmans vor. Er ist auf Integrations- und Migrationsforschung spezialisierter Soziologe und lehrt an der Berliner Humboldt-Universität als Professor. Mit "Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg" ist die gemeinte Monographie etwas irritierend betitelt, zumal so der eigentliche Kerninhalt der präsentierten Reflexionen nicht unbedingt getroffen wird. Erklärbar ist diese Auswahl wohl durch folgende Feststellung: "Das europäische Asylsystem gleicht einer Lotterie um Leben und Tod, um Freiheit und Unterdrückung – einer Lotterie freilich, bei der die Gewinnchancen ungleich verteilt sind" (S. 10).

Cover

Gemeint ist damit folgende Beobachtung: Einerseits werde ein hoher moralischer Anspruch mit dem europäischen Asylrecht verbunden, andererseits nötige es zur Flucht von Schutzbedürftigen auf einem lebensgefährlichen Weg. Gleich im ersten Kapitel, dem keine Einleitung etwa zu Erkenntnisinteressen oder Methoden vorgeschaltet ist, findet man prägnante Thesen: "Das europäische Asylsystem fordert mehr Menschenleben, als es rettet" (S. 12), womit die schlichte Feststellung verbunden ist, dass mehr Menschen im Mittelmeer ertranken als eben Rettung fanden. Einen Asylantrag könnten auch nicht diejenigen Flüchtlinge stellen, welche den gemeinten Schutz am nötigsten brauchten. In dessen Genuss kämen die Menschen, die erfolgreich, weil lebendig nach Europa gelangten. Derartige Ausführungen liest man zwar nicht erstmalig, sie verdeutlichen aber die entsprechende Problemlage zugespitzt. Koopmans verteilt seine Kritik dann in unterschiedliche Richtungen: Aufnahmekapazitäten würden ignoriert, Erstaufnahmeländer allein gelassen.

Dies alles wird ohne polemische Ausfälle in nüchterner Sprache, mit empirischen Daten und vergleichenden Reflexionen präsentiert. Koopmans thematisiert dabei die bekannten Problemfelder: die Entstehung der Flüchtlingskrise, die Frage der beruflichen Integration, die Gefahr eines Terrorismus oder die Kriminalitätsbelastung im Migrationskontext. Geht es um die Erklärung bestimmter Missstände, so vermeidet der Autor monokausale Deutungsmuster. Dies machen die Ausführungen zur erwähnten Kriminalitätsbelastung deutlich: Durchaus zutreffend ist die Beobachtung, dass Flüchtlinge in der Kriminalstatistik überrepräsentiert sind. Der genaue Blick auf die dafür relevanten Faktoren veranschaulicht etwa: "Kombiniert man Geschlecht und Alter, reduzieren sich die Unterschiede zwischen Flüchtlingen und der Gesamtbevölkerung …" (S. 143). Außerdem variieren auch die Angaben je nach erhaltenem Flüchtlingsstatus und dem jeweiligen Herkunftsland. Und dann kommt auch in der Gesamtschau kulturellen und religiösen Mustern eine bedeutende Relevanz zu.

Demnach leugnet der Autor derartige Bedingungsfaktoren keineswegs, wie gern Kritikern pauschaler Zuordnungen vorgeworfen wird. Am Ende geht es noch um die Flüchtlinge aus der Ukraine, welchen mit größerer Hilfsbereitschaft und Solidarität begegnet wurde. Koopmans veranschaulicht, dass dies nichts mit Rassismus zu tun hatte. Er verweist dabei auf deren Herkunft aus einem näheren Land und ihre homogenere soziale Zusammensetzung. So wendet sich der Autor indirekt sowohl gegen Klischees von links wie von rechts. Dies geschieht jeweils mit großem Differenzierungsvermögen und hoher Sachkenntnis. Zum Abschluss plädiert Koopmans noch für eine "realistische Utopie" (S. 195), was bei ihm auf "ein radikales Gedankenexperiment: Vom individuellen Asylrecht zu humanitären Kontingenten" (S. 197) hinausläuft. Gegen einen gut begründbaren Einwand argumentiert er präventiv: "humanitäre Visa für individuell politisch Verfolgte" (S. 212) sind bei ihm ausdrücklich vorgesehen. Kurzum: das Buch lohnt die Lektüre.

Ruud Koopmans, Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg, München 2023, C. H. Beck-Verlag, 269 Seiten, 26 Euro

Unterstützen Sie uns bei Steady!