Kleine Inspektion der erstaunlichen Karriere einer viel gepriesenen Bürgertugend

Die Logik der Toleranz (1)

BERLIN. (hpd) Das Wort "Toleranz" fehlt in keiner Rede. Doch ist den Rednern und den Zuhörern eigentlich wirklich bewußt, was "Toleranz" bedeutet und woraus sie sich ableitet? Diesen Fragen geht Rainer Krause in einem zweiteiligen Essay nach.

Aufschwung eines Ideals

An Einsatz für Toleranz fehlt es heutzutage wahrlich nicht. Ob Sozialarbeiter bei der Betreuung sozialer Randgruppen mehr Solidarität und Toleranz einfordern, ob Oberstudienräte ihren Schülern Toleranz als tragendes Element gelebter Humanität anempfehlen oder Wahlkampfredner verschiedener Parteien beim friedlichen Wettstreit um unterschiedliche politische Ziele die Regeln der Toleranz beachten wollen ‒ stets herrscht Einigkeit über den herausragenden Wert dieser besonderen Tugend, die offenbar niemand missen will. In kaum einer Weihnachtsansprache des jeweiligen Bundespräsidenten darf eine eindringliche Ermahnung der Bürger zur Toleranz fehlen. Und wo der Papst regelmäßig die Gläubigen auffordert, friedlich und tolerant zu sein, wollen auch die protestantischen Glaubensbrüder und -schwestern nicht nachstehen und erinnern anlässlich Martin Luthers judenfeindlicher Ausfälle an die religiöse Toleranz als bleibende Aufgabe.

Selbst höchste deutsche Gerichte befassen sich ‒ ausschließlich positiv ‒ mit dem Toleranzthema, sei es in Urteilen, in denen die Toleranz "als tragendes Prinzip der Demokratie"1 herausgestellt und bekräftigt wird, sei es in Gestalt eines Essays der ehemaligen Präsidentin eben dieses Gerichts über "Das Toleranzgebot des Grundgesetzes"2 (2005).

Schließlich lassen auch internationale Organisationen wie z.B. die UNESCO es sich nicht nehmen, im Namen ihrer Mitgliedstaaten Wesen, Rang und Funktion der Toleranz bündig zu definieren und ihr damit eine hohe Autorität dauerhaft zu sichern3 (1995).

Bei diesem rasanten Aufschwung der Toleranz zu einem unangefochtenen Ideal möchten natürlich auch die Medien nicht abseits stehen und beteiligen sich, etwa die Feuilletons der überregionalen Zeitungen und z.B. die ARD mit ihrer "Themenwoche" zur Toleranz (2014), intensiv am öffentlichen Diskurs. Nicht zuletzt zeugen viele Bündnisse für "Weltoffenheit und Toleranz" oder Initiativen für "Toleranz und Demokratie" gegenwärtig in vielen Städten Deutschlands davon, dass diese Haltung ‒ so wie sie dort verstanden wird ‒ endlich praktisch umgesetzt wird, wenn sie nicht schon zur verwirklichten Tugend geworden ist.

Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung markiert aber die sogenannte Flüchtlingskrise, die sich in Deutschland spätestens seit Mitte 2015 nicht nur in gespaltenen Reaktionen in der einheimischen Bevölkerung geäußert hat (brennende Flüchtlingsunterkünfte vs. Willkommenskultur), sondern auch den unvergleichlichen Aufstieg des Toleranz-Ideals zur Kardinaltugend der pluralistischen Demokratie beflügelt und besiegelt hat, besteht doch spätestens seit dieser Zeit im öffentlichen Bewusstsein durchweg Konsens, dass eine moderne pluralistische Gesellschaft mit ihrer durch Hundert-tausende von Flüchtlingen und Migranten erweiterten spannungsvollen Vielfalt an moralischen Werten, Glaubensrichtungen, Lebens-formen und kulturellen Gebräuchen ohne Toleranz nicht lebensfähig sei. ‒ Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Blick zurück.

Rückblick

In den letzten Jahrzehnten sind wir Zeugen eines tiefgreifenden Wandels in Europa geworden. Das kulturelle Erscheinungsbild Europas hat sich stark verändert. Waren die Nationalstaaten Europas nach dem II. Weltkrieg durch weitgehende kulturelle Homogenität geprägt, so sehen wir seit den 1960er Jahren weltweit anwachsende Migrationsprozesse, die sich in verschiedenen Kulturräumen abspielen und die unterschiedliche Ursachen haben.

Die Geschichte der Zuwanderung nach Deutschland seit dem Ende des II. Weltkriegs zeigt ein differenziertes Bild. Waren es unmittelbar nach dem Ende des Krieges vor allem Kriegsflüchtlinge und Vertriebene, die in der Bundesrepublik aufgenommen wurden, setzte seit Mitte der 1950er Jahre infolge des stürmischen Wirtschaftsaufschwungs in mehreren Wellen ein Zustrom angeworbener Arbeitsmigranten aus Italien, der Türkei und vielen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern ein, der erst durch den Anwerbestopp 1973 vorläufig beendet wurde. Später kamen viele Einwanderer im Rahmen des Familiennachzugs, zudem Aussiedler z.B. aus der ehemaligen Sowjetunion, dazu neue Kriegsflüchtlinge aus der sogenannten III. Welt, verstärkt auch Armutsflüchtlinge und politisch Verfolgte. Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland, auch wenn die politische Elite das jahrelang nicht wahrhaben wollte und sich gegen diesen Begriff gestemmt hat.

Die geschichtliche Erfahrung lehrt, dass dort, wo eine kulturell homogene Gesellschaft lebt, Toleranz-Probleme nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Sobald allerdings Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen, Sitten und Gebräuchen zusammenleben, können Spannungen auftreten. Das ist insbesondere dann der Fall gewesen, wenn es dabei um religiöse Glaubenshaltungen geht, denn diese bestimmen offenbar in besonders starkem Maße darüber mit, welche kulturelle Identität sich herausgebildet hat. Diese Spannungen ‒ auch das zeigen Geschichte und Gegenwart ‒ vergrößern sich erneut, wenn die drei monotheistischen Religionen betroffen sind.

Im Unterschied z.B. zur polytheistischen religiösen Welt der Antike mit ihren vielen Göttern kennzeichnet den Monotheismus der jeweilige Anspruch auf exklusive Wahrheit durch die Verehrung "des einzigen Gottes", der auch selbst explizit fordert, keine weiteren Götter neben sich zu haben. Der Anspruch, die einzig wahre Religion zu verkörpern, verbannt folglich alle anderen Religionen in die Ecke der falschen, ‒ eine Stellung, gegen die sie sich verständlicherweise wehren.

Außer den drei im Anspruch gegeneinander konkurrierenden Religionen (Judentum, Christentum, Islam) sind in Deutschland noch viele weitere Religionsgemeinschaften und Glaubensrichtungen vertreten. Das Grundgesetz garantiert für alle Bürger zwar die ungestörte Religionsausübung. Aber beim geplanten Bau von Moscheen, wenn muslimische Frauen ein Kopftuch tragen, wenn Tiere geschächtet werden oder die Vorhaut von Knaben aus religiösem Motiv beschnitten wird, kommt es immer wieder zu weltanschaulichen Konflikten. Ist hier die Forderung nach Toleranz angebracht und geeignet, ein friedvolles Zusammenleben zu garantieren, in dem jeder nach seiner Façon selig werden kann? Zumindest richten sich an das Ideal der Toleranz enorm hohe Erwartungen hinsichtlich der Befriedung potentieller Konflikte zwischen den Kulturen. Denn klar ist: Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen religiösen Glaubens, verschiedener Hautfarbe, Muttersprache und ethnischer Herkunft, von Menschen, die sich auch in ihrer sexuellen Orientierung und in vielerlei anderer Hinsicht noch unterscheiden können, wirft grundsätzliche und schwerwiegende Fragen nach Normen und Regeln des Umgangs mit einander auf, nach Zuständigkeiten und Verantwortung ‒ und auch danach, wie leistungsfähig in diesem Zusammenhang die vielgepriesene Bürgertugend der Toleranz tatsächlich sein kann. Um das beantworten zu können, muss man wissen, was Toleranz überhaupt ist.

Bedeutungselemente

Betrachten wir den Begriff der Toleranz in seiner semantischen Struktur, wird eine Dreigliederung erkennbar4. Das zeigt folgendes Beispiel:

Wenn die oberste Schulaufsichtsbehörde eines Landes das Tragen eines Kopftuches von beamteten muslimischen Lehrerinnen toleriert, dann (1.) hat sie etwas gegen das Kopftuchtragen, (2.) ist sie in der Lage, das Tragen zu verbieten, (3.) verzichtet sie aber auf ein Verbot.

Allgemein heißt das, dass jeweils drei Komponenten vorliegen:

Wenn eine Person P die Sache oder die Person X toleriert, dann (1.) hat P etwas an X auszusetzen, lehnt P X ab (Ablehnung), (2.) wäre P in der Lage, X zu beeinflussen (Machtgefälle), (3.) unterlässt P aber diese Einflussnahme (Akzeptanz), aus welchen Motiven auch immer.

Dass sich dieser Begriff der Toleranz in den letzten Jahren zu einem höchst bedeutenden Sympathieträger entwickelt hat, an den sich ehrgeizige Erwartungen richten, ist einigermaßen erstaunlich angesichts der vielen Ungereimtheiten und gedanklichen Mängel, die in ihm stecken.

(wird fortgesetzt)


  1. BVerfGE 35, 23 (32) ↩︎
  2. Jutta Limbach: Multikultur und Minderheit. Das Toleranzgebot des Grundgesetzes. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2005. S. 1221-1229. ↩︎
  3. UNESCO (Hrsg.): Erklärung von Prinzipien der Toleranz. Verabschiedet auf der 28. Generalkonferenz in Paris. 25.10. bis 16.11.1995. ↩︎
  4. Vgl. zum Folgenden: Ralf Stoecker: Toleranz. In: Jordan, Stefan / Nimtz, Christian (Hrsg.) (2009): Lexikon Philosophie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart. S. 263-265. ↩︎