Podiumsdiskussion in Münster

Radikalisierung religiöser Bewegungen

Die Stadt Münster und der Arbeitskreis "1648 - Dialoge zum Frieden" luden am vergangenen Donnerstag zu einer Podiumsdiskussion zum Thema "Identität, Fundamentalismus, Gewalt - Radikalisierung religiöser Bewegungen" in das Rathaus des Westfälischen Friedens in Münster ein. Ins Gespräch kommen sollten die Juristin und Menschenrechtsaktivistin Seyran Ateş, der Ethnologe und Kultursoziologe Prof. Dr. Thomas Hauschild sowie der Journalist und Kriegsberichterstatter Christoph Reuter – doch eine Diskussion fand kaum statt.

1648 wurde mit dem in Münster und Osnabrück geschlossenen Westfälischen Frieden der Dreißigjährige Krieg beendet. Ein Ereignis, an das die Stadt Münster mit der jährlichen Veranstaltungsreihe "1648 - Dialoge zum Frieden" erinnert, die auch den Rahmen für die Podiumsdiskussion am vergangenen Donnerstag vor 200 Gästen im Friedenssaal des historischen Rathauses in Münster bildete. Anlässlich des Reformationsjahres 2017 sollte in der Veranstaltungsreihe diesmal an eine historische Episode angeknüpft werden, die Münster fundamental geprägt hat: Die fünfjährige Schreckensherrschaft der reformatorischen Täufer. Seit der Rückeroberung der Stadt im Jahr 1535 konnten die Katholiken ihre Macht in Münster halten – was erst kürzlich durch die üppige städtischen Finanzierung des Katholikentags im nächsten Jahr mit Unterstützung des zuvor als Bistumsfunktionär tätigen, amtierenden Oberbürgermeisters Markus Lewe unter Beweis gestellt wurde.

Doch die Chance, über Täufer und christliche Schreckensherrschaft zu sprechen, wurde nicht genutzt. Nicht überraschend, da mit einer Kritik an der für die Stadt und ihre Funktionäre so bedeutsamen christlichen Religion bei einer von der Stadt veranstalteten Podiumsdiskussion kaum zu rechnen war. Überhaupt war die angekündigte "Podiumsdiskussion" eine Mogelpackung, denn zu einem Dialog oder gar einer Diskussion kam es auf dem Podium nicht. Stattdessen befragte WDR-Radiomoderatorin Gisela Steinhauer die Gäste lediglich zu ihren jeweiligen Kompetenzgebieten.

Den Anfang machte Ethnologe und Kultursoziologe Thomas Hauschild, der nach einem halben Jahr Gastprofessur am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster seinen letzten Tag in der Stadt verbrachte. Als Religionsforscher betrachtet er die Randzonen des Katholizismus. Hauschild forschte zwischen 1982 und 2015 zum Thema Religion und Politik in der süditalienischen Provinz Basilicata. Den Grund für religiöse Radikalisierungen in Süditalien sieht Hauschild im Zerfall des familiären Lebens. Seine Ausführungen hatten dank anekdotenreicher Beschreibungen, wie der steuerlichen Eingruppierung für heilende Magier, durchaus Unterhaltungswert, gingen aber an der Lebenswirklichkeit außerhalb der süditalienischen Provinz vorbei. Entsprechend konnte er nur für sein sehr spezielles Fachgebiet einen Beitrag hinsichtlich der angekündigten Fragestellung leisten, wie und warum sich eine religiöse Bewegung radikalisieren kann. Seine darüber hinausgehenden Ansätze, wie der Vergleich von "biodeutschen" Islamkonvertiten zu den 1968er Jugendlichen der APO-Bewegung, die er in erster Linie durch Eigenschaften wie "lange Haare, Beat-Musik und Kiffen" charakterisierte, wirkten eher befremdlich. Belustigend war hingegen seine mangelnde Differenzierung zwischen Vollbärten von Hipstern und den Protagonisten von Enthauptungsvideos, zwischen denen er einen Zusammenhang zu sehen glaubt.

Christoph Reuter, Journalist und Nahostkorrespondent des SPIEGEL berichtete über den "Islamische Staat" in Syrien und dem Irak. Reuter beschrieb sehr anschaulich, welches Anziehungspotenzial der IS auf deutsche Jugendliche ausüben kann, die selbst als Pizzaboten scheitern. Er sprach über die Motive, die 940 Deutsche dazu bewegten, islamistische Terroristen zu werden. Reuter kritisierte auch das Versagen unserer Gesellschaft, die es versäumt habe, menschenwürdige Lebensverhältnisse zu bieten. Eben unter diesen Rahmenbedingen entfalte der IS seine Attraktivität, indem die Schuld am Scheitern von den Angeworbenen genommen würde. Ihnen würde die Chance gegeben, ihre Biographie noch einmal zurückzusetzen und von vorne zu beginnen.

Christoph Reuter trat den Sorgen der Bevölkerung, dass Flüchtlinge und Zuwanderer neben mehr Vielfalt auch Gewalt mitbringen, entgegen: Wer als Syrer oder Iraker zum IS gehen möchte, um Gewalt auszuüben, "der könne das Fahrrad nehmen oder zu Fuß gehen". Diejenigen, die hierher kommen, wüssten, dass sie in ihrer Heimat nicht mehr überleben könnten, weil Haus und Stadt bereits zerstört seien. Die Männer würden zur Armee eingezogen oder je nach Gebiet gezwungen für IS, Kurdenmiliz oder andere zu kämpfen. Die meisten Menschen würden nach Ihrer Initialflucht erst zwei oder drei Jahre in Flüchtlingslagern in der Türkei oder im Libanon verbringen. Sie merkten, dass der Krieg nicht vorbei gehe und machten sich für eine bessere Zukunft, auch für ihre Kinder, auf den Weg nach Europa. Diese Menschen hätten erfahren, was Krieg und Dschihadismus bedeute. Es gehöre zur Strategie des IS, die Befürchtung zu schüren, mit den Flüchtlingen komme die Gewalt nach Europa.

Seyran Ateş berichtete von der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, deren prominente Mitbegründerin sie ist. Seit Gründung der Moschee kann sie sich nur noch mit Personenschutz in der Öffentlichkeit bewegen. Auch bei der Veranstaltung in Münster gab es starke Sicherheitsmaßnahmen. Ateş sprach von herabwürdigenden Fatwen aus Ägypten sowie vom islamischen Zentrum in Hamburg. Aus der Türkei stammten Diffamierungen, die Moschee würde zur Gülen-Bewegung gehören. Trotzdem habe die Moschee weltweit Millionen Anhänger gewonnen. Viele Menschen hätten jedoch Angst, die Moschee zu besuchen und fürchteten Drohungen und Diffamierungen. Der Betrieb werde derzeit von 15 bis 20 Leuten aufrechterhalten. Dennoch glaubt Seyran Ateş an den Erfolg ihrer Initiative und erntete damit den Beifall des Publikums.

Hinsichtlich der Motive für religiöse Radikalisierung im Islam, wies Seyran Ateş auf das große und unterschätzte Machtpotential sexueller Fantasien hin. Auch für Konvertiten ist der Wandel vom Versager zum "Bestimmer" ein wichtiger Aspekt. Auf junge Frauen wirke dies "sexy". Die Aussicht auf vier Frauen und zusätzliche Sexsklavinnen stelle umgekehrt für Männer eine starke Motivation dar. Außerdem biete der Koran ein einfaches Konzept an, wie die Welt zu sein habe. Viele Muslime würden "nach Autorität schreien". Sie legten den Koran sehr eng und genau aus. Viele könnten nur rezitieren ohne dabei etwas zu verstehen. Die meisten trauten sich nicht zu hinterfragen. Als Vorbild für den Umgang mit heiligen Schriften nannte  Seyran Ateş die Protestanten, die die Bibel historisch kritisch lesen würden. Das machten die wenigsten Muslime mit dem Koran. Dabei gäbe es auch im Islam keine Autorität zwischen Gott und den Menschen. Es sei positiv, dass der Islam eine sehr individualistische Religion sei.

Bezogen auf die Politik wies Seyran Ateş auf ihre Erfahrungen mit der deutschen Islamkonferenz hin, an der sie 2006 bis 2009 teilnahm. Ihre Warnungen vor salafistischen Gruppen und dem immer stärker werdenden Ruf nach der Scharia, wurden von den Politikern rund um den damaligen Vorsitzenden Wolfgang Schäuble mit einem Schmunzeln und dem Hinweis abgetan, sie würde zu feministisch und hysterisch auf Dinge reagieren, die nur sehr klein wären. Heute würden die Verbände von einer Selbstverständlichkeit reden, dass die Scharia mit unserer Verfassung vereinbar sei. Es werde viel verharmlost und gegen die liberalen Muslime gekämpft. Die Parteien hätten sich bisher alle durchweg unglaublich naiv gezeigt.

Ateş warf die Frage auf, ob dieses Verhalten Programm sei. Die Radikalen würden in Parteien und Organisationen immer mehr Raum einnehmen und behaupten, das sei notwendig, damit wir in Frieden zusammenleben können. Den Forderungen nach mehr Religiosität und Ritualen der "Kopftuchfraktion" würde immer häufiger nachgegeben werden. "Es macht mich sauer, wenn Grundschulkinder fasten. Die Kinder fallen reihenweise im Unterricht um. Wir haben auch eine Obhutspflicht des Staates. Und irgendwo hören die Rechte der Eltern auf, nämlich da wo die Gesundheit der Kinder geschädigt wird." Die Umstellung der Speisepläne in Kindergärten und Schulen mit Rücksicht auf muslimische Kinder und auch die Befreiung vom Schwimmunterricht ist inzwischen weitestgehend akzeptiert. Inzwischen tragen schon kleine Mädchen in Kindergärten und Grundschulen ein Kopftuch. Dies werde verharmlost indem man sagt "das soll doch die Frau entscheiden, ob sie ein Kopftuch trägt". Es sei auch deshalb schwierig, weil viele Leute tolle Frauen kennen würden, die ein Kopftuch tragen. Für die Islamverbände und Moscheevereine sei das Kopftuch aber ein Zeichen der absoluten Geschlechtertrennung, die sie auch in ihren Gemeinden praktizierten. Bei Amtsträgern sollten wir nach Ateş keine Diskussion führen, ob ein Kopftuch getragen wird: "Das sollte nicht erlaubt sein." Für ihre klaren Worte erhielt Seyran Ateş großen Applaus.