Eine Kritik der Instrumentalisierung des Opfer-Status

Opfer als Helden

Der Journalist Matthias Lohre erörtert in seinem Buch "Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zugeben", dass ein angeblicher oder tatsächlicher Opferstatus auch instrumentalisiert werden kann. Es geht in dem etwas essayistisch-journalistisch gehaltenen Text immer etwas durcheinander, aber die kritischen Anmerkungen zur Identitätslinken wie Identitätsrechten verdienen schon allein für sich reflektierendes Interesse.

"Du Opfer" gilt wohl immer noch auf manchen Schulhöfen als verbale Verdammung. Doch gibt es mittlerweile einen anderen Diskurs, wonach indirekte Machtansprüche aus dem Opferstatus abgeleitet werden. Dies klingt auf den ersten Blick etwas erstaunlich und irritierend. Auf den zweiten Blick wirkt dies schon nachvollziehbarer und überzeugender. Dies zeigt allein schon Donald Trump, hält er sich doch ständig für ein Opfer. Es gebe eine Hexenjagd gegen ihn, Kritiker würden unberechtigt auf ihn einschlagen. Dabei sei er doch selbst nur der Held der einfachen Leute. Dieses Beispiel steht auch am Anfang eines Buches, das mit "Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben" betitelt ist. Autor ist Matthias Lohre, der früher für die taz gearbeitet hat und heute gelegentlich für Die Zeit schreibt. Darin heißt es: "Wir werden Zeuge eines epochalen Umbruchs: das Ideal des selbstbestimmt lebenden Individuums verblasst, und an seine Stelle tritt das immerzu Aufmerksamkeit und Mitgefühl einfordernde Opfer" (S. 13).

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Der Autor leugnet indessen nicht, dass es in Geschichte und Gegenwart unterschiedliche Opfer gab und gibt. Absicht ist keine Relativierung oder Schmähung. Ihm geht es um eine Auseinandersetzung darüber, was sich mit der Berufung auf einen solchen Status verbindet. Er will Menschen begleiten, "die nach dem Opferstatus streben, mit seiner Hilfe Macht ausüben und ihn eifersüchtig bewachen" (S. 15). Dabei dauert es indessen ein paar Kapitel, kommt Lohre doch erst etwas später zum Kern der Sache. Denn zunächst blickt er auf unterschiedliche Phänomene des Themas. Da geht sowohl um Abrahams Bild in den Religionen wie um den Burnout in der Gegenwart. Auch werden einige überspitzte Thesen formuliert, heißt es doch etwa: "Der Opferstatus verspricht Halt" oder "Das Opfer sieht sich nicht nur auf der Seite des bedrängten Guten, sondern als dessen Verkörperung" (S. 66 f.). Mitunter kann man auch solche Aussagen falsch verstehen, hängen sie doch im luftleeren Raum als inhaltliche Verallgemeinerungen.

Besser und klarer wird es, wenn die gemeinten Akteure ins Blickfeld geraten. Das sind zunächst die Identitätslinken, die sich mit allen nur möglichen angeblichen und tatsächlichen Opfergruppen solidarisieren müssen und jegliche Kritik an diesen als pauschalisierende Vorurteile von sich weisen. Dabei bemerkt der Autor: "In ihrer Extremform hat die linke Idee kultureller Aneignung Gemeinsamkeiten mit extrem rechten Überzeugungen" (S. 135). In einem formal-strukturellen Sinne ist dies auch so, wie anschließend erläutert wird. Auch die AfD bedient sich eines Opfer-Diskurses, mit sich selbst in der Hauptrolle, versteht sich. Von der "Partei der aggressiven Opfer" (S. 138) ist da die Rede. Und überhaupt hatte so etwas in der deutschen Geschichte auch Tradition, wie der Autor an der Beschreibung des Lebensbildes von Rudolf Höß veranschaulicht. Auch der Auschwitz-Kommandant sah sich in seiner Autobiographie als Opfer. Mit solchen Bildern spielten indessen aber auch ehemalige DDR-Bürger, nicht nur direkt, sondern auch später nach der Wende.

Der Autor hat ein eher essayistisches und journalistisches Buch vorgelegt. So etwas erlaubt es auch immer zwischen Akteur und Akteur, Einzelbeispiel und Theorie, Geschichte und Gegenwart hin und her zu springen. So richtig wird die Frage "Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben" nicht beantwortet. Aber Lohre liefert viele Reflexionen, die weiteres Nachdenken anregen können. Erstaunlicherweise spricht er nicht an, dass etwa mit dem "Islamophobie"-Vorwurf mit allen Muslimen als angebliche Opfer eine Immunisierung vor Kritik durch fundamentalistische Verbände betrieben wird. Hier hat man es für das Gemeinte eigentlich mit einem Musterbeispiel zu tun. Das Buch endet mit Ausführungen zu Lösungen, die aber sehr allgemein gehalten sind. Hilfsbereitschaft und Offenheit sind erstrebenswerte Tugenden, verharren aber hier als Modelle in der unverbindlichen Verallgemeinerung. Gleichwohl verdienen die Ausführungen kritisches Interesse, allein schon hinsichtlich der Instrumentalisierung des Opferstatus.

Matthias Lohre, Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben, Gütersloh 2019 (Gütersloher Verlagshaus), 288 S., 22,00 Euro

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