Nietzsches erfolgreichste Provokation?

Die "blonde Bestie"

Für eher schlichte Gemüter der älteren Generation ist Nietzsche derjenige, der mit der "Peitsche" zu "Frauen" geht, weil er sich das anders wohl nicht traut. Für viele Humanisten, Sozialisten und Linke hingegen derjenige, der "die blonde Bestie" als "frohlockendes Ungeheuer" losgelassen und der braunen Meute Wege freigeschrieben hat. Doch stimmt wenigstens Letzteres?

Es ließe sich überprüfen. Die Formulierung "blonde Bestie" stammt aus Nietzsches Streitschrift "Zur Genealogie der Moral" von 1887. Nietzsche schrieb sie zu einem Zeitpunkt, als er bereits ein volles Jahresgehalt in die Druckkosten für seine Bücher gesteckt hatte, die sich dennoch nur erbärmlich verkauften: 100 bis höchstens 200 Exemplare in der Regel. War er, der für seine Schriftstellerei lebte, in seinem fünften Jahrzehnt völlig gescheitert? Dann konnte er sich gleich umbringen. Doch was tun? Wann hatte er jemals Erfolg? Wann konzentrierte sich auf ihn gebannte Aufmerksamkeit? Wann hätte man eine fallende Stecknadel gehört, wenn er im Mittelpunkt stand? Richtig, das war, als er als Oberstufenschüler und bester Poet seiner Schule auf jeder Jahresfeier und bei anderen Gelegenheiten in Pforte vor hochmögendstem Publikum eines seiner Mammutgedichte vortrug. Doch was war daran so auffallend? Es waren konzeptsprengende Schauertexte beispielsweise über Ermanarich oder Siegfrieds Tod.

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Konnte das imitiert werden? Es konnte. Mit Formulierungen, die man nur einmal hören musste, damit sich über sie fast jeder aufregte? Dann hätte er gewonnen. Doch andererseits: er war ein Mann von Niveau und Distinktion. Also mussten die plakativsten Formulierungen für sorgsamere Leser – andere schwatzen nur nach –, wenn man genauer hinsah, fast wieder zurückgenommen werden. Doch wer sah schon genauer hin? Wer seit über 110 Jahren, seitdem "Zur Genealogie der Moral" erschienen ist? Und Gemüter von Interpreten erregt, mittlerweile weltweit?

Davon und anderem liest man im historisch-kritischen Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, der von Andreas Urs Sommer als Band 5/2 "Zur Genealogie der Moral" als letzter der Spätestschriften Nietzsches von 1886–1888 geltenden vier Teilbände vorgelegt wurde. Wieder einmal trifft ein listiger Autor – denn das war Nietzsche – auf einen nicht minder raffinierten Interpreten, so dass der vergnügte Leser mitverfolgen kann, auf welche Weise sich der Kommentator auf die Spur des Autors setzt – und nicht mehr abzuschütteln ist. Er recherchiert die Quellen, die Nietzsche las und zum Teil – doch immer in seinem Sinne – ausschlachtete, überprüft die Argumentationen, ob Nietzsche nicht nur hinreißend formuliert, sondern auch seine Gedankenlinien konsequent und widerspruchsfrei entwickelt. Und kommt ihm immer wieder auf die Schliche.

So rekonstruiert er, dass die "blonde Bestie" erst ins Feld geführt und semantisch losgelassen, doch dann wieder eingefangen und fast schon "entsorgt" wird. Doch Empörte merken’s nicht, weil sie auf Stichworte reagieren, Texte nicht lesen und, wenn doch, meist schlicht zu wenig wissen. So sprach man in der Antike vor allem vor unserer Zeitrechnung von aristokratisch organisierten Barbaren, die immer wieder in mediterrane Kulturräume einbrachen, als flava bestia. Das Unwort ist also keine Erfindung Nietzsches, der sich einmal mehr aus seinem altertumswissenschaftlichen Erinnerungsschatzkästchen bediente.

Wenn man als Historiker diese Babaren mit Mongolen, die Schädelpyramiden der Bewohner größerer Städte errichteten, mit Assyren, die Verteidiger sich nicht ergebender Städte zu Tausenden pfählten oder mit christlichen Kreuzfahrern vergleicht, die in Jerusalem dem Herrn zum Lob in Blut wateten, entspannt sich mancherlei Dramatik. Und wenn man Sommers Fährtengängen in Nietzsches Texten nachgeht, noch mehr, denn Nietzsche nimmt derlei aufmerksamkeitsweckende Formulierung fast schon zurück. Vor allem freilich: Sommer weist – und das ist viel wichtiger – nach, dass Nietzsche sich in den Prämissen seiner Sklavenmoraltheorie selbst irreparabel widerspricht.

Manchmal lohnt sich’s, wenn ein kluger Kopf sich Nietzsches Texte vornimmt und zeigt, dass und wie man sie "knacken" kann. Wer lernen möchte, wie man Texte sauber interpretiert und wer außerdem sein geisteswissenschaftliches Sprachniveau deutlich zu liften sucht, sollte sich ernstlich überlegen, Sommers Kommentar – sei es zur "Genealogie der Moral" oder aber zu "Jenseits von Gut und Böse", dem Erstere "zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben" wurde – gründlich zu lesen sowie darauf zu achten, wie Sommer interpretiert, Gedanken zusammenfasst und Widersprüche aufspürt. Lernen lohnt sich, denn sonst reagiert man weiterhin nur auf Stichworte; und das verdummt.

Andreas Urs Sommer, Band 5.2 Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral", De Gruyter, 2019, ISBN: 978-3-11-029308-1, 69,95 Euro

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