BERLIN. (hpd) Schauen wir uns die Reaktion der deutschen Politik auf den Zivilputsch des türkischen Präsidenten Erdogan an, nehmen Hilfs- und Ratlosigkeit hierzulande zunehmend peinliche Züge an. Wir erleben in dem Nato-Land eine Gleichschaltungswelle wie nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933. Hören wir aber die sanften Appelle des Bundesaußenministers, könnte man meinen, es gehe nicht um den Kern der Menschenrechte, sondern um eine Fußnote in einem Handelsabkommen.
Insofern ist es sehr zu begrüßen (und persönlich mutig), wenn Grünen-Parteichef Cem Özdemir Sanktionen gegen die türkische Regierung wie beispielsweise Kontensperren in Gespräch bringt, wenn diese den aktuellen Kurs nicht korrigiert. "Wenn Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte weiterhin außer Kraft gesetzt werden, müssen wir auf EU-Ebene auch über Sanktionen für das direkte Umfeld der Machthaber nachdenken, beispielsweise indem man Konten und Vermögen einfriert", sagte Özdemir Bild am Sonntag vom 24. Juli 2016.
Wer aber ein Schwein schlachten will, braucht mehr als einen hölzernen Kochlöffel. Wer sich mit dem Diktator vom Bosporus anlegt, sollte statt symbolischer Gesten Klarheit und Entschlossenheit walten lassen. Will die EU nicht den Rest von Ansehen bei den eigenen Bürgern leichtfertig verspielen, sollte sie aufhören, sich noch länger was vorzumachen und über wirkungsvolle Maßnahmen gegen die türkische Führung nachdenken, die bisher Tabu waren oder sind. Die Sanktionen können nur Erfolg haben, wenn sie zielgerichtet dort treffen, wo Erdogan besonders empfindlich ist und vor allem etwas zu verlieren hat, im Bereich der Wirtschaft und der Freizügigkeit. Seine Machtstellung beruht zu einem wichtigen Teil auf den Erfolgen seiner Wirtschaftspolitik als Ministerpräsident. Der russische Präsident Putin hat nach dem Abschuss seines Düsenjägers gezeigt, wie es geht. Nicht zuletzt durch die Blockade des Tourismus hat er seinen türkischen Kollegen bewogen, sich für den Abschuss zu entschuldigen und Besserung zu geloben.
Wirksame Maßnahmen
1. Unterbrechung der EU-Beitrittsverhandlungen
Die Beitrittsverhandlungen zur EU sollten sofort unterbrochen und das Flüchtlingsabkommen auch formell aufgekündigt werden. Wer selbst Menschen zur Flucht treibt, ist ein falscher Partner in der Flüchtlingspolitik. Scheinverhandlungen dienen weder der Klarheit der eigenen Position, noch sind sie geeignet, der türkischen Führung deutlich zu machen, dass es ohne Demokratie und Menschenrechte keine Gemeinsamkeit mit Europa geben kann.
Die Zusammenarbeit mit dem Nato-Partner Türkei sollte darüber hinaus auf das unabdingbar Notwendige reduziert werden. Die Stationierung von Nato-Einheiten, die gegen den IS eingesetzt werden, macht unter den gegenwärtigen Umständen wenig Sinn. Die strategische Bedeutung der Türkei wird nach dem Ende des Kalten Kriegs noch immer überschätzt. Eine Sicherheitslücke entsteht hier nicht, wenn die Luftraumüberwachung über dem syrischen Kriegsgebiet beispielsweise von Jordanien oder von Schiffen aus vorgenommen wird.
2. Aussetzung des EU-Türkei-Assoziierungsabkommens
Bei diesem Abkommen aus dem Jahre 1963 handelt es sich um einen äußerst sensiblen Bereich der Zusammenarbeit, dessen Aussetzung Erdogans Position in der Türkei fühlbar schwächen würde. Ziel und Zweck des Abkommens von 1963 waren die Gewährung der klassischen europäischen Grundfreiheiten, die Schaffung einer Zollunion sowie vor allem die vertraglich vereinbarten Aussicht der Türkei auf eine künftige EU-Mitgliedschaft.
Das Abkommen gewährt ein implizites Aufenthaltsrecht für türkische Staatsbürger in den Mitgliedstaaten der EU und darüber hinaus auch die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, eine Arbeitserlaubnis und in bestimmten Fällen auch das Recht auf einen umfassenden Familiennachzug. 1980 wurde vereinbart, dass "für Arbeitnehmer und deren Familienangehörige keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt" beschlossen werden dürften. Türkische Staatsangehörige, die nach der 1980 geltenden Rechtslage arbeiten durften, dürfen dies auch heute uneingeschränkt im Gebiet der EU tun.
Der Europäische Gerichtshof stellte 1990 (C-192/89) klar, dass das Assoziierungsabkommen der Türkei mit der EU sowie die daran angeschlossenen Zusatzabkommen und die Assoziationsratsbeschlüsse seit ihrem Inkrafttreten "integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung" geworden sind. Somit haben die Regelungen des Assoziationsrechts "Vorrang" und entfalten in den Mitgliedstaaten eine "unmittelbare Wirkung". Der nationale Gesetzgeber ist zur Umsetzung der Regelungen des Assoziationsrechts verpflichtet.
Ein Aussetzen dieser weitreichenden Regelungen würde Erdogan den Nimbus des unantastbaren und erfolgreichen Wirtschaftsführers nehmen. Die Wirtschaft des Landes würde empfindlich getroffen. Solange der Westen kuscht und zahlt, kann er auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Mehrheit Zug um Zug seine Diktatur aufbauen. Das wird für die Menschen am Ende schlimmer als das – vorübergehende – Ertragen bestimmter Sanktionen und Unannehmlichkeiten.
3. Beendigung der Tätigkeit türkischer "Import-Imame" in Deutschland
Erdogan und seine AKP versuchen, die Menschen mit türkischen Wurzeln als eine Art Fünfte Kolonne gegen die Aufnahmeländer zu missbrauchen. Nichts anderes hatten die Auftritte des Potentaten in Deutschland zum Ziel. Ein wichtiges Mittel, Macht über die Menschen mit türkischen Wurzeln zu behalten, ist die Religionspolitik. Nicht nur in Deutschland haben die türkischen Behörden eine islamisch geprägte Parallelgesellschaft hervorgebracht. 970 Imame aus der Türkei predigen in den rund 900 Moscheen, die Ditib, der größte islamische Dachverband, in Deutschland betreibt. Dieser Verband untersteht der türkischen Religionsbehörde Diyanet und diese direkt der türkischen Regierung.
Ditib wurde 1982 mit dem Ziel gegründet, alle türkischen Gemeinden unter ihrem Dach zu vereinen und sie auf den Staatsislam der Religionsbehörde Diyanet zu verpflichten. Die Imame der Ditib sind türkische Staatsbeamte mit allen Rechten und Pflichten. Bei Dienstantritt müssen sie einen Gesinnungstest ablegen, wie Karen Krüger in ihrem ausgezeichneten Artikel "Im Namen Erdogans" (FAZ-Feuillton vom 24. Juli 2016) berichtet. Es ist, so Krüger, zudem bekannt, dass sie vor Parlamentswahlen in der Türkei in der Regel dazu aufrufen, für Erdogans AKP zu stimmen. Der hohe Stimmenanteil der AKP bei Deutsch-Türken in den letzen Parlamentswahlen von rund 60 Prozent ist insofern kein Zufallsprodukt.
Nicht nur in den Gemeinden der Ditib, sondern auch in den Moscheen der übrigen türkischen Verbände predigen fast ausschließlich Imame, die dafür aus der Türkei mit einem Touristenvisum einreisen. Ein Aufenthaltsrecht von bis zu fünf Jahren genießen lediglich die Ditib-Imame, die als Angestellte der Konsulate geführt werden, die anderen müssen früher zurück. Der von Krüger zitierte Religionspädagoge Rauf Ceylan hat für seine Studie "Die Prediger des Islam: Imame - Wer sie sind und was sie wirklich wollen" (2010) Imame in Deutschland befragt. Prediger, die bereit sind, die Verse des Korans aus ihrem historischen Kontext zu lösen und zeitgemäß zu interpretieren, sind in Deutschland noch in der Minderheit und setzen sich kaum an der Basis durch. Viele junge Muslime wenden sich deshalb von ihren Gemeinden ab und der Religion im Privaten zu - oder dem Salafismus. Der ebenfalls zitierte Religionswissenschaftler Ourghi sieht hier völlig zu Recht eine "Gefahr für die Integration, wenn über die Zukunft der Religion unserer türkischen Mitbürger im Ausland entscheiden wird."
Seit einigen Jahren bieten mehrere deutsche Hochschulen Studiengänge an, die zur Tätigkeit des Imams befähigen. Noch gibt es kaum Absolventen. Wie viele von ihnen einmal als Imame in Deutschland wirken können, ist ungewiss. Die Ditib hat schon vor geraumer Zeit angekündigt, ihre Imame auch weiterhin in der Türkei ausbilden zu wollen. Diese Aussicht verheißt nichts Gutes, sie ist eine Drohung.
Österreich zieht mit seinem neuen Islamgesetz Konsequenzen aus den genannten Problemen. Dort hat der erste Imam bereits das Land verlassen, weil er aus dem Ausland finanziert wurde und im Auftrag der türkischen Regierung gearbeitet habe. Die Ausländerbehörde verlängerte sein Visum nicht. Diese De-facto-Ausweisung droht Presseberichten zufolge weiteren 64 Vorbetern. Mit dem neuen Gesetz will die Regierung Österreichs den Extremismus bekämpfen und Regeln für einen Islam europäischer Prägung aufstellen. Es erscheint aber wohl fraglich, ob ein solches Gesetz nur für eine bestimmte Religion mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Das österreichische Gesetz leidet zudem unter einer Reihe von Schwächen, so dass auch über die Verfassungsmäßigkeit eine Übernahme nicht in Betracht gezogen werden kann. Richtig ist allerdings, die Tätigkeit der Prediger mit den gegebenen rechtlichen Mitteln besser zu kontrollieren und nach Möglichkeit so zügig wie möglich zu beenden.
4. Ditib und Co isolieren
Für deutsche Politiker, so bekannte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) unlängst, ist Ditib ein "unverzichtbarer Partner": beim interreligiösen Dialog, beim Entwurf von Richtlinien im Religionsunterricht, bei der Integration der Flüchtlinge. "Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger und das ist eine große Chance". Der Verein trage mit seiner Arbeit dazu bei, Vorbehalte abzubauen und die Menschen zu integrieren, die in Deutschland bleiben wollen, so die Ministerpräsidentin (Die Welt, 16. 02. 2016). Ein solches gänzlich unkritisches Verständnis von Partnerschaft ist wohl nicht allein Säkularen, sondern auch liberalen Muslimen suspekt.
Auch in Berlin macht der Fraktionsvorsitzende der SPD im Abgeordnetenhaus Reklame für einen Staatsvertrag mit den muslimischen Gemeinden. Das heißt nichts anderes, als Ditib wie eine Religionsgemeinschaft mit dem Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zu behandeln. Dann sitzen sie – wie in Nordrhein-Westfalen und anderen Ländern – in den entsprechenden Beiräten, die über die Besetzung der Lehrstühle für Islamwissenschaften sowie den Inhalt der Lehre an den Universitäten entscheiden. Die bisherigen Erfahrungen mit dieser Praxis sind ernüchternd. Liberale muslimische Hochschullehrer werden behindert und verdächtigt. Unter den Augen der Bildungsbehörden befördert Ditib seine konservativ-reaktionären Lehrinhalte.
Die hier zur Diskussion gestellten Maßnahmen werden zu erheblichen - auch innenpolitischen - Konflikten führen. Die bisherige Kuschelpolitik ist allerdings nicht nur gescheitert, sondern auch geeignet, Europa der Lächerlichkeit preiszugeben. Wer nicht entschlossen für die Freiheit - auch in der Türkei – eintritt, wird sie womöglich auch andernorts aufs Spiel setzen. Wir Säkulare sind aufgerufen, unseren Beitrag zu leisten, eine solche Entwicklung zu verhindern.
9 Kommentare
Kommentare
Wolfgang am Permanenter Link
Es geht immer wieder um das liebe Geld und da verkauft man auch seine Seele an den Teufel. Das bitte nur symbolisch sehen, denn den Teufel gibt es auch nicht.
Frank Nicolai am Permanenter Link
Lieber Kommentator Wolfgang.
Bitte verzichte auf Deine Schlussformeln "Ach du lieber Gott!" oder "Amen" - die sind hier wirklich fehl am Platze und auch nicht witzig oder ironisch, wenn sie jedesmal geschrieben werden.
Die Redaktion wird sich künftig nicht mehr die Mühe machen, diese Formel zu löschen; sie wird die Kommentare in Gänze löschen.
René am Permanenter Link
Hm. Das finde ich unverhältnismäßig.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Man kann kaum umhin, wie Fr. Akgün, anzunehmen, dass dieser Putschversuch durch Erdogan kontrolliert wenn nicht gar initiiert wurde.
Man muss sich auch Sorgen machen, um die Funktionsfähigkeit aller möglichen Verwaltungen und technischen Einrichtungen. Noch mehr als in säkularen Organisationen gilt da ja jetzt „Linientreue und Frömmigkeit gehen vor Kompetenz“. Mit Turkish Airlines möchte ich jedenfalls zukünftig nicht mehr fliegen wollen.
Dieter Bauer am Permanenter Link
@ Wir Säkulare sind aufgerufen, unseren Beitrag zu leisten, eine solche Entwicklung zu verhindern.
Verschaffen wir uns mehr Gehör, mehr Beachtung. Die Fantasten "fressen" uns ansonsten.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Wir sehen uns hier einer besonderen Form eines Appeasements durch unsere Regierung gegenüber, die letztlich droht, unsere eigene freiheitliche Ordnung zu bedrohen.
Was geschieht? Nicht nur, dass die eigene verfassungsmäßige Ordnung dem eigenen Volk gegenüber der Lächerlichkeit preisgegeben wird, es werden auch noch Verschwörungstheorien à la "Regierung will uns umvolken, nach Weisung der NWO und der Rothschilds" geradezu gedüngt.
Politik ist nicht nur die Kunst des Möglichen -das hat Bismarck in Bezug auf seine Innenpolitik gesagt- sondern ebenso die Kunst des Notwendigen. Wir können doch nicht allen Ernstes dem Entstehen eines faschistisch-diktatorischen Staatsgebildes, das die meisten nicht zu Unrecht als deja vù empfinden, tatenlos zuschauen, ebensowenig wie dem Entstehen einer politisch-religiösen Parallelgesellschaft, die sich um Integration und Identitätsschaffung einen Dreck schert.
Hat man den wirklich die Multikulti-Ideologie gemeinsam mit einer Art Zivilpazifismus schon so verinnerlicht, dass unsere Regierung überhaupt nicht mehr aus den eingefahrenen Bahnen von Schönreden und Dulden herausfindet?
Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, was unsere Regierenden eigentlich so umtreibt. Es geht doch nicht um die Nichteinmischung in Angelegenheiten von Fremdstaaten. Es geht um die mehr als besorgniserregende, gerade uns Deutschen deutlich werdende Entwicklung eines assoziierten Staates, eines sogenannten Nato-Partners, der auch noch den Anspruch erhebt, seine türkischen Bürger hier in unserem Land beinahe zu einem Staat im Staate zu erheben.
Wir tragen insofern auch eine große Mitverantwortung für die Schicksale, die die jetzt einsetzenden systematischen "Säuberungen" über viele Menschen in der Türkei bringen.
Jedes nichtmilitärische Mittel muss in Betracht gezogen werden, um die Entwicklung in der Türkei -und auch hier- zu stoppen. Wir stehen in der Verantwortung. Ansonsten kann es passieren, dass irgendwann die Geschichtsschreibung gerade über Deutschland wegen dieser Entwicklungen den Stab bricht.
Kay Krause am Permanenter Link
Frage (bitte nicht als Kritik mißverstehen): welche Staaten haben eigentlich 1933 und in den Jahren davor versucht, mit allen zur Verfügung stehenden nichtmilitärischen Mitteln die Bildung des diktatorisch geführten N
Bitte um geschichtliche Aufklärung.
Dieter Bauer am Permanenter Link
@Udo Endruscheit
So lange Hasspredigerwirken und Zulassung von Gewaltfantasienverbreitung in unseren Breiten willkommen geheißen wird, ist der Untergang geistig freiheitlichen Denkens und Handelns vorprogrammiert, auch wenn dies von unseren "Volksvertretern" noch nicht erkannt zu sein scheint.
David am Permanenter Link
Wie bewerten wir eigentlich den Sachverhalt, dass diverse AKP Politiker und Fans die doppelte Staatsangehörigkeit (deutsch/türkisch) haben und in D wählen können?