Rezension

Albert Camus und die Zerrissenheit

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Albert Camus (1957)
Albert Camus (1957)

Dass Albert Camus den Dogmatismus abgelehnt und die Zerrissenheit angenommen hat, ist in dem Buch "Die Zerrissenheit. Albert Camus' Tanz unter dem Schwert" das zentrale Thema bei Holger Vanicek. Er liefert eine interessante Detaildeutung des literarischen Werkes, hätte aber auch die politische und soziale Seite noch stärker thematisieren können.

Albert Camus ist als Philosoph und Schriftsteller weltberühmt geworden. Dafür stehen die Abhandlungen "Der Mythos des Sisyphos" (1942) und "Der Mensch in der Revolte" (1951) und die Romane "Der Fremde" (1942) und "Die Pest" (1947). Auch als politischer Denker und philosophischer Religionskritiker war er bedeutsam, was indessen als Besonderheit meist weniger zur Kenntnis genommen wird. Gerade seine Ablehnung eines "Sozialismus des Galgens", bezogen auf die damaligen diktatorischen Systeme, und seine Bejahung eines libertären Sozialismus hätten stärkere Wahrnehmung verdient gehabt. Möglicherweise erklären aber auch die Ambivalenzen in Camus' Denken diese Ignoranz. Er bemerkte selbst einmal: "Wenn es eine Partei derer gäbe, die sich nicht sicher sind, recht zu haben, dann wäre das die meine. Auf jeden Fall verhöhne ich nicht diejenigen, die nicht auf meiner Seite sind. Darin liegt meine einzige Originalität." Eine solche Auffassung mag man als fehlende Entschlossenheit kritisieren, sie kann aber auch Ausdruck realer Zerrissenheit sein.

Cover

Genau diese Deutung durchzieht eine Monographie zum Thema von Holger Vanicek, der als Bildhauer und Schriftsteller bekannt wurde. Außerdem vertritt er die Albert Camus Gesellschaft als deren Präsident. Dies lässt von einer affirmativen Einstellung gegenüber dem französischen Literaturnobelpreisträger ausgehen, was aber nicht gegen die Existenz interessanter Interpretationen sprechen muss. Sie finden sich in dem Band "Die Zerrissenheit. Albert Camus' Tanz unter dem Schwert". Darin deutet der Autor Camus eben als einen Denker der Zerrissenheit. Diese Bezeichnung darf aber nicht als Psychologisierung missverstanden werden. Denn Camus war sich offensichtlich der Komplexität vieler menschengemachter Phänomene bewusst. Er vermied Absolutsetzungen bei Deutungen und Exklusivitätsansprüche auf die Wahrheit. Diese Auffassung erklärt wohl mit den Bruch mit Jean-Paul Sartre, wobei es auch um die Einschätzung gegenüber politischen Entwicklungen eben des damaligen Sozialismus ging. Camus kritisierte ihn als Demokrat.

Dieser politische Aspekt kommt indessen in dem erwähnten Buch kaum vor, auch wenn ein Kapitel "Die Zerreißprobe des Libertären Camus" betitelt ist. Darin geht es mehr um die damalige Algerien-Frage, wobei Camus als in diesem Land geborener Mensch dazu eine ambivalente Position einnahm. Sie ist später als ansatzweise Akzeptanz des französischen Kolonialismus missverstanden worden, wobei es ihm doch primär um die gewalttätigen Folgen für die einfachen Menschen ging. Auch dies macht der Autor als Camus-Interpret nur kurz deutlich. Seine Aufmerksamkeit richtet sich primär auf den Literaten. Erzählungen, Romane und Theaterstücke stehen im Zentrum. Immer wieder hebt Vanicek die Zerrissenheit als Thema hervor. Dabei erfolgt die Analyse meist eng am Text. Sie geht allgemein wie bezogen auf Camus davon aus, "dass eine innere Zerrissenheit dem Menschen natürlich gegeben ist, damit offen umzugehen, aber eine besondere Herausforderung bleibt" (S. 186). Der von Camus gewählte Entwicklungsweg bildet dann das Thema.

Der Autor veranschaulicht dies an einer Deutung von "Der Fall" und "Die Pest" als Romane oder "Caligula" und "Die Gerechten" als Theaterstücke. Der genaue Blick auf einzelne Passagen fällt dabei immer wieder positiv auf, kennt doch Vanicek die gemeinten Werke sehr gut. Bezogen auf die philosophischen Abhandlungen betont er: "Camus' Begriff von Humanität entspringt keiner abstrakten Idee, die auf die Zukunft ausgerichtet wäre, sondern auf die Erfahrung jedes einzelnen Menschen in seiner gelebten Gegenwart" (S. 45). Genau diese Lebenswirklichkeit und dieser Realismus brachten ihn gegenüber dogmatischen Vorstellungen zum Widerspruch. Bezogen auf politische und soziale Aspekte seines Denkens hätten diese Gesichtspunkte noch stärker betont werden können, konzentriert sich das Buch doch zu stark auf das literarische Werk. Auch eine auf diese Denkungsart bezogene bilanzierende Einschätzung wäre noch wichtig gewesen. Gleichwohl handelt es sich um eine für jeden Camus-Interessierten wichtige Monographie.

Holger Vanicek, Die Zerrissenheit. Albert Camus' Tanz unter dem Schwert, Heidelberg 2022, Verlag Graswurzelrevolution, 220 Seiten, 17,90 Euro

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