Richtig sterben

(hpd) Ein Streit darüber, ob man seinen Leichnam einäschern oder im Sarg bestatten lassen sollte, wäre für die meisten von uns, hier in Mitteleuropa, überflüssig. Vor gut 100 Jahren musste allerdings für das Bürgerrecht auf eine Feuerbestattung noch politisch – vor allem gegen die Kirchen - gekämpft werden.

Heute kämpfen nicht wenige für das Bürgerrecht auf eine ungehinderte Suizidhilfe in Deutschland, doch für den Palliativmediziner Gian Domenico Borasio ist dies nicht nachvollziehbar, wie man seinem neuen Buch “Selbst bestimmt sterben” entnehmen kann. Der Suizid ist nur ein kleiner Randaspekt beim Problemkomplex des Sterbens. Jetzt will Borasio allen den Blick aufs Wesentliche, Wichtigere öffnen und uns auch zeigen, wie wir “richtig” sterben… Den Verheißungen des Buchtitels wird er jedoch nur teilweise gerecht, da er sich im Kern auf das beschränkt, was Palliativmedizin leisten kann bzw. könnte, wenn sie nur hinlänglich verstanden und breit etabliert wäre.

Cover

Damit wir uns also von den wahren Problemen nicht noch länger durch die ach so überflüssige “Sterbehilfe-Debatte” abhalten lassen, präsentiert er erneut – hier in Kurzfassung – den Vorschlag, eine Rolle rückwärts zu machen und den mindestens seit 1871, also dem in-Kraft-Treten unseres Strafgesetzbuches, bestehenden Freiraum für Suizidhilfe in Deutschland mittels eines Verbotsparagraphen praktisch abzuschaffen. Denn niemand soll künftig solche Hilfe wiederholt professionell anderen anbieten dürfen – außer Ärzten. Diesen soll die Suizidhilfe als moralische Pflicht auferlegt werden – allerdings nur bei Schwerst-Kranken mit schlechter Prognose. Von einem selbst-bestimmten Sterben bleibt dann nur wenig übrig, verglichen mit dem, was liberal Denkende heutzutage darunter verstehen und auch ein Großteil der deutschen Bevölkerung wünscht.

Borasio – der seit mehreren Jahren in der Schweiz arbeitet (er selbst ist Italiener) - vermeidet es geflissentlich, uns zu erklären, warum nicht die Regelung in der Schweiz, wo sowohl Ärzte als auch Sterbehilfeorganisationen Suizidwünsche erfüllen dürfen, ein optimales Modell für Deutschland wäre. Was, bitte, ist eigentlich so schlecht an einer breit akzeptierten, zukunfts-offenen Sterbehilfeorganisation wie “Exit”? Statt die Suizidhilfe solcher Organisationen kritisch zu analysieren, zieht er es vor, uns die “Voraussetzungen für eine vernünftige Diskussion” (S. 25) zu vermitteln, indem er uns teils medizinische Erfahrungen mitteilt (sehr gut), teils sich über Begrifflichkeiten verbreitet, vor allem über das Thema Selbstbestimmung.

Dessen ungeachtet hat das Buch durchaus Wert für LeserInnen, die sich schon öfters mit dem Themenkomplex befasst haben und ihr Wissen vertiefen möchten. Für alle dürften nicht zuletzt die vielen Fallbeispiele von Interesse sein, ebenso auch, was an Wissen über Palliativ-Medizin und deren psycho-soziale Dimension vermittelt wird. Vor allem Ärzten sei die Lektüre dieses Buches dringend empfohlen. Borasio zeigt zudem sehr deutlich auf, welch große Defizite es bei der Mehrzahl von ihnen immer noch im Umgang mit PatientInnen in der letzten Lebensphase gibt. Auch sind die Wissensdefizite bezüglich Palliativmedizin und anderer rechtlich zulässiger medizinischer Maßnahmen bei Juristen und BetreuerInnen teilweise noch haarsträubend. Die Kritik an unserem Gesundheitswesen – das weiterhin zur Übertherapie neigt – und den damit verquickten Interessen der Pharmabranche ist fundiert und ebenfalls sehr lesenswert.

Dass Selbstbestimmung am Lebensende nicht in einem luftleeren Raum stattfindet und viele Facetten hat, dürfte zwar jedem Nachdenklichen nicht neu sein, aber es wird hier gut illustriert. Hingegen scheint mir der Umgang mit den juristischen Begrifflichkeiten nicht durchgehend hilfreich zu sein. Zu Recht wird der unselige und leicht zu vermeidende Ausdruck “aktive Sterbehilfe” kritisiert. Doch was soll die illusorische Forderung, den (sicherlich unpräzisen) Ausdruck “Sterbehilfe” gar nicht mehr zu verwenden? Der juristisch klare und unverzichtbare Begriff des “Behandlungsabbruchs” behagt Borasio nicht so recht, weil dessen unkommentierte Verwendung bei einem Patienten bzw. seinen Angehörigen Erschrecken auslösen kann. Das zu vermeiden, ist aber doch Aufgabe einer guten Arzt-Patienten-Kommunikation, wie der Autor sie fordert.

Obwohl Borasio wünscht, dass man nicht mehr von “Selbstmord” spricht, fehlt bezeichnender Weise in seiner Tabelle 5.2 der wichtige Punkt “Beihilfe zur Selbsttötung”. Daher sei hier die richtungsweisende, leider noch nicht genügend befolgte Empfehlung des Deutschen Ethikrates von 2006 zitiert: “Entscheidungen und Handlungen am Lebensende, die sich mittelbar oder unmittelbar auf den Prozess des Sterbens und den Eintritt des Todes auswirken, können angemessen beschrieben und unterschieden werden, wenn man sich terminologisch an folgenden Begriffen orientiert: Sterbebegleitung, Therapie am Lebensende, Sterbenlassen, Beihilfe zur Selbsttötung, Tötung auf Verlangen.”

Borasio möchte sich – anders als deutsche Arztfunktionäre – von Patienten, bei denen Palliativ-Medizin irgendwann an ihre Grenzen stößt, nicht abwenden, sondern Suizidhilfe gewähren. Aber er kehrt all denen den Rücken zu, deren Problemen mit Palliativ-Medizin a priori gar nicht beizukommen ist, also Menschen, die z.B. die Aussicht, demnächst als völlig hilfloser “Pflegefall” in ein Heim eingewiesen zu werden oder z.B. in eine Demenz zu gleiten, nicht hinnehmen wollen. Er lässt uns wissen, ihm selber sei vor Demenz nicht “bange”. Hinter Weisheiten wie “es ist hinlänglich bekannt, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist” versteckt Borasio seine Überzeugung, dass Suizid eigentlich nicht wirklich gut sein kann. Er will sich offensichtlich gar nicht erst auf die humanistische rationale Möglichkeit eines Abwägens einlassen, ob in der letzten Lebensphase nicht so manches, was noch kommen könnte, für einen selbst überflüssig ist, weshalb man es vielleicht durch präventiven Suizid vermeiden möchte. Hat nicht ein Mensch am Ende eines langen Lebens auch das Recht, zu sagen: “Es ist genug!”, auch wenn er nicht todkrank ist? Zugegeben: Nicht wenige Menschen behaupten jahrelang, sie würden lieber aus dem Leben scheiden als z.B. ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselt zu werden; und später, wenn es ernst wird, ändern sie ihre Meinung und versuchen, sich der neuen Lebenssituation anzupassen. Aber mit dem Hinweis auf solche Fälle kann man z.B. an das Problem der Demenz nicht herangehen.

Parallel zum Rückgang der Säuglingssterblichkeit entwickelte sich vor allem im vergangenen Jahrhundert die Familienplanung durch Geburtenkontrolle immer weiter. Wenn jetzt – ebenfalls dank medizinischen Fortschritts – die Menschen immer älter werden, im hohen Alter aber oft nicht mehr gesund sind, ist es ebenfalls plausibel, dass manche über das Beenden des eigenen Lebens nachdenken. Irgendwann wird die Zahl der Alterssuizide ein stationäres Niveau erreichen. Wenn das dann eingetreten ist, wird sich vielleicht nur noch ein Häuflein Ewig-Gestriger darum scheren, ob es nun 1, 5 oder gar 10 Prozent von denen sind, die pro Jahr “altersbedingt” sterben.

 


Borasio, Gian Domenico, “selbst bestimmt sterben - Was es bedeutet. Was uns daran hindert. Wie wir es erreichen können”, 2014. 206 S., ISBN 978–3–406–66862–3, 17,95 Euro