Gewalt in der Erziehung

Ein Land schreit auf

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WIEN. (hpd) Die österreichische Öffentlichkeit schreit auf gegen Gewalt als legitimes Erziehungsmittel. Ausgelöst hat die breite Debatte ausgerechnet ein Artikel in der konservativen Tageszeitung “Die Presse”, in der milde Gewalt als legitimes Mittel präsentiert worden war.

Keine Statistik, wie verbreitet Gewalt an Kindern bis heute noch ist, hat geschafft, was Redakteur Wolfgang Greber von der Tageszeitung “Die Presse” mit seinen freimütigen Geständnissen in der Sonntagsausgabe zustande gebracht hat.

Greber hatte ohne den Funken von schlechten Gewissen zugegeben, seinen Sohn übers Knie zu legen und am Ohr zu ziehen, wenn sonst nichts mehr helfe. Gewaltfreie Erziehung sei eine gefährliche Fantasie, suggerierte er: “Ich habe manch gewaltfrei erzogenes Kind erlebt, sie neigen zu Rücksichtslosigkeit und verbreiten oft negative Schwingungen.” (Der hpd berichtete)

“Presse” distanziert sich vom eigenen Artikel

Wahrscheinlich noch nie war der Aufschrei gegen Gewalt als Erziehungsmittel so laut wie nach diesem Artikel. Tausende Kommentare in sozialen Medien und den Online-Foren der Medien zeigten sich entsetzt über die Aussage. Die Verteidiger der nach wie vor vereinzelt propagierten “gesunden Ohrfeige” oder nicht so offensichtlich drastischer körperlicher Gewalt waren eine kleine Minderheit.

Die “Presse” sah sich genötigt, sich vom Inhalt des Artikels zu distanzieren. Die interne Kontrolle habe versagt, gestand die Chefredaktion am Montag zerknirscht ein. Das Diskussionsforum zum Artikel wurde geschlossen. Greber distanzierte sich vom eigenen Artikel, sprach von missverständlichen Formulierungen, die er der “Eile der Produktion” zuschrieb.

Debatte geht weiter

Was die Debatte nicht beendete. Die “Presse” selbst veröffentlichte ein Interview mit einer Trainerin für gewaltfreie Kommunikation, die Gewalt in der Erziehung eine bedingungslose Absage erteilt. Eröffnet wird das Stück mit der etwas verschämt anmutenden Frage: "Zuletzt war viel von Gewalt in der Erziehung die Rede. Wie geht es anders?"

Die Tageszeitung Kurier widmete dem Thema ebenfalls breiten Raum. Auch wenn sich alle Beteiligten vom Artikel in der “Presse” distanziert hätten, der Schaden sei angerichtet, wird dort festgestellt: Wohl auch, weil diese Worte eines deutlich machen, wie Leibovici-Mühlberger (Martina, Expertin für die Tageszeitung, Anm.) feststellt: “Das Bekenntnis zur gewaltfreien Erziehung ist in vielen Köpfen und Herzen noch nicht angekommen”. Ihre Forderung deshalb: “Wir müssen wachsam bleiben. Psychische und körperliche Gewalt schaden Kindern dauerhaft. Deshalb müssen wir als Gesellschaft unsere Buben und Mädchen vor diesem Leid schützen.” Nachsatz: “Seelische Gewalt wiegt oft sogar noch schwerer als Schläge.”

Die renommierte Kolumnistin Doris Knecht konnte der Debatte Positives abgewinnen: “Der Entrüstungssturm, der über den Redakteur herein brach und die am Montag erfolgte, ziemlich halbherzige Distanzierung seiner Redaktion zeigt etwas – und zwar etwas Gutes: Es gibt für Gewalt in der Kindererziehung keinen gesellschaftlichen Konsens mehr. Der Kollege dachte, ein bisschen sei jetzt wieder ok: Aber das ist es nicht. Diesen Schritt haben wir aus gutem Grund gemacht, diesen Schritt gehen wir nicht mehr zurück.”

Man könnte den Eindruck gewinnen, die richtige Debatte begänne erst.

Betroffene melden sich erstmals zahlreich zu Wort

Und erstmals melden sich zahlreich Menschen zu Wort, die selbst als Kinder Gewalt ausgesetzt waren. Den Anfang machte der renommierte ORF-Moderator- und Journalist Armin Wolf. Ihm drehe es den Magen um, wenn er den Artikel lese, schrieb er auf seiner Facebook-Seite. Und schilderte seine persönlichen Erfahrungen. Sie wurden tausendfach geteilt und kommentiert.

Ein couragierter Schritt, der vielen anderen Mut machte. Nicht nur in sozialen Medien. Der Wiener Philosoph und Schriftsteller Georg Schildhammer folgte am Mittwoch mit einem Gastkommentar in der Tageszeitung Der Standard. Er schildert, wie ihn sein Vater mehrfach mit einem metallenen Schuhlöffel geschlagen hat: “Die wahre Erniedrigung bestand darin, dass mein Vater mich im Befehlston aufforderte, die Hände wegzunehmen, wenn ich versuchte, meinen Hintern vor seinen Schlägen zu schützen. Denn ich gehorchte seinem Befehl jedes Mal und machte mich somit zum Komplizen bei meiner eigenen Misshandlung.
Ich weiß nicht mehr, welcher Vergehen ich mich schuldig gemacht haben könnte, die eine solche Bestrafung gerechtfertigt hätten. Weder habe ich Mitschülerinnen vergewaltigt noch mit meiner Spielzeugpistole die Raiffeisenbank ausgeraubt. Ich habe keine Tiere gequält und keine alten Menschen vor Autos gestoßen.”

Ein Text, der bei vielen traumatische Erinnerungen auslöste, die sie öffentlich artikulieren. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Womit auch ein Schritt getan ist, der Öffentlichkeit begreiflich zu machen, was Gewalt gegen Kinder anrichtet. Und vielleicht der Beginn einer Bewegung ähnlich der wie der Betroffener kirchlicher Gewalt.