Kein Buchtipp

Der Thilo Sarrazin der Alphabetisierten

(hpd) Weihnachten naht, Tipps fürs perfekte Geschenk unterm Christbaum dürfen nicht fehlen. Ein Buch, das man eher nicht schenken sollte, ist Peter Sloterdijks “Die schrecklichen Kinder der Neuzeit”. Es sei denn, man hält den Beschenkten für ein schlichtes Gemüt der Kategorie Bildungsbürger.

Der Gedanke, alle Menschen seien gleich an Rechten und Würde trieb den Menschen gleich dem Apfel im Paradies zu seiner eigentlichen Ursünde, zur Französische Revolution. Mit ihr vertrieb er sich - wenn schon nicht aus dem Paradies - so doch aus wohlgeordneten und überschaubaren Verhältnissen, hinein in den ewigen Sprung oder Sturz nach vorwärts, der doch nur vor den ewigen Abgrund führt.

Ordnung, Legitimität, Planung, alles vergangen. Aus dem Kernen des Apfels der Gleichberechtigung sind monströse Bäume geworden, die da heißen Menschenrechte, Gier, Umweltzerstörung und natürlich Krieg.

Das ist die Moderne nach Peter Sloterdijk. So beschreibt er sie in seinem Buch “Die schrecklichen Kinder der Neuzeit.”

Die Banalisierung der Geschichte

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Die Moderne, so findet er, ist nicht nur eine Sünde der Geschichte, sondern auch eine an der Geschichte. Besteht doch moderne Geschichtsschreibung lächerlicherweise auf Vorstellungen wie die, dass die sozialen Verhältnisse, in denen Menschen leben, auch nur das Geringste damit zu tun haben könnten, wie Menschen denken, fühlen und handeln.

Geschichte, so lernt man, ist die mehr oder weniger geordnete Weitergabe von Wissen und Tradition vom Sohn an den Vater. Das ist die zweite Generalthese der “Schrecklichen Kinder der Neuzeit”. Geschichte ist aus dieser Perspektive gesehen immer die Abfolge von Generationenkonflikten. Dass sie jemals eine Abfolge sozialer Konflikte gewesen sein könnte – kaum mehr erwähnenswerter Irrtum, findet Sloterdijk.

Seine Thesen belegt der Philosoph mit einigen Einzelbeispielen. Als da wären – erraten - die Französische Revolution und Robespierre, Napoleon, Lenin, Stalin und origineller- und durchaus lesenswerterweise Bretton Woods. Wie willkürlich jede Interpretation ist, die sich aus einer derart selektiven Zusammenstellung ergibt, erklärt sich von selbst.

Verheddert in Metaphern, verloren zwischen Lücken

Seine Thesen kann Sloterdijk mit diesen Beispielen nicht erhärten. Das kaschiert er mit zeitweise wortgewaltigen Abhandlungen zur griechischen Mythologie, zum Christentum und sonst allerlei. Wenn diese Blitze einer unbestrittenen Belesenheit und Sprachmacht nicht reichen, greift er zum alten Trick der deutschen Gelahrten: Die Lücken in seinen Thesen, groß wie Scheunentore, dichtet er mit allerlei Geschwafel, Wortmäandern und Fremdworten zu. Das ist in der zweiten Hälfte eines jeden Kapitels der Fall. Manchmal schon in der ersten.

Dazwischen verheddert sich Sloterdijk in seinen eigenen Metaphern. Den ungeplanten Sturz oder Sprung vorwärts, dem Hiatus (Sloterdijkisch für: Abgrund) entgegen etwa überstrapaziert er und kann sich nicht recht aus dem eigenen Korsett befreien. Diese Unfähigkeit strukturiert auch das Buch und macht die Schwäche seiner Thesen vielleicht deutlicher, als wenn er sich weniger sprachverliebt und mehr ernsthaft und gründlicher ans Werk gemacht hätte.

Der große Sloterdijk wird zum Opfer der eigenen Eitelkeit.

Kein Kapitel zum Faschismus

Das sind nicht die einzigen intellektuellen Schwächen des Buches. So wird nie näher definiert, welchen Zeitraum man sich unter dem Begriff Moderne vorzustellen hat. Sloterdijk selbst offeriert mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Dass im Titel die Neuzeit vorkommt, macht die Sache nicht wirklich klarer. Das mutet eigenartig an angesichts der Präzision (oder zumindest dem Willen dazu), den er bei anderen Begriffen in diesem Werk zeigt.

Bezeichnend auch, wer und was alles Sloterdijk für kein schreckliches Kind der Neuzeit hält. Zum Faschismus findet sich kein eigenes Kapitel. Dafür nicht weniger als drei zur Oktoberrevolution und zum Stalinismus. Nur ein halbes Kapitel lang beschäftigt sich Sloterdijk mit Heinrich Himmler um in der zweiten Hälfte nahtlos bei den Schergen Stalins zu landen.

Das ist bemerkenswert für einen deutschsprachigen Philosophen. Vielleicht ist es seiner Arroganz zuzuschreiben, dass er, der große Sloterdijk sich darüber erhaben fühlt, als Deutscher den Faschismus analysieren zu müssen. Das überlasse man dem philosophischen Pöbel – also so ziemlich jedem anderen deutschsprachigen Philosophen.

Revisionist Sloterdijk?

Andererseits versucht er sich abzusichern, indem er in einer Nebenbemerkung im Stalin-Kapitel den Nationalsozialismus zum Nicht-Faschismus erklärt. Als Zitat getarnt meint er nach alter Revisionisten-Manier das NS-Regime quasi zur deutschen Variante von Stalins “Sozialismus in einem Land” umdeuten zu können. Der Applaus der Neuen Rechten und sonstiger moderner Sozialistenfresser und Revisionisten ist ihm sicher. Wahrscheinlich auch von der CSU, wobei hier die Grenzen zu den vorher Genannten bekanntermaßen fließend sind, so sie überhaupt existieren.

Sloterdijks Feigheit, diese so abgedroschene wie falsche These als Zitat zu tarnen, quasi nur als Möglichkeit, freilich als einzig genannte, in den Raum zu stellen, macht dieses Aufwärmen der alten konservativen und faschistischen Geschichtslüge vom eigentlich sozialistischen Nationalsozialismus noch um eine Spur ärgerlicher. Und konterkariert das Bild, das er in dem Werk von sich selbst herzustellen versucht: Das des einsamen Philosophen, der kraft seines unnachahmlichen Intellekts mutig gegen den Strich bürstet.

Ihm sei ein mindestens ebenso bedeutender deutscher Konservativer und Intellektueller von Weltrang entgegengehalten. Thomas Mann antwortete auf diese Gleichsetzung: “Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Haß aber allein den Kommunismus bekämpfen.”

Ressentiments statt Erkenntnis

Dazu kommt, dass Sloterdijk die Verbrechen der Geschichte vor Beginn der Moderne diskret unter den Tisch fallen lässt. Terror, Willkürherrschaft und Völkermord sind nicht erst mit beziehungsweise nach der Französischen Revolution auf die Welt gekommen. Noch nicht mal die Zerstörung von Ökosystemen ist eine spezifisch moderne Erscheinung.

Die Provokation wäre stärker, würde er seine Thesen auch nur annähernd plausibilisieren können. Daran scheitert er. Freilich, man hat den Eindruck, es geht in den “Schrecklichen Kindern der Neuzeit” nicht um neue Erkenntnisse.

Sloterdijk versucht, seine eigenen Ressentiments gegen die Moderne, gegen die Gleichberechtigung der Menschen, gegen den liberalen Rechtsstaat und wohl auch gegen die Demokratie zu rationalisieren. Wohlwissend, dass diese Ressentiments unter reaktionären und stockkonservativen Bildungsbürgern weit verbreitet sind.

Der Philosoph als Kunstexperte

Das merkt man an seiner Einschätzung zur modernen Kunst: “An die Stelle des selbstverstärkenden Könnens-Kreises tritt ein System selbstverstärkender Regelverletzungen, ja eine Meta-Regel der selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten, bis hin zur mutwilligen Unterbietung aller Erwartungen an das artistische Wesen der Kunst. Seither operiert das Pop-Segment des modernen Kunstbetriebs offensiv auf der Abfall-Stufe, als sollte die Doktrin eingehalten werden, nur das, was weniger als Kunst ist, könne noch wirkliche Kunst, ja mehr als Kunst sein.” (S 218)

Seien wir froh, dass der Bildungsbürger Peter Sloterdijk weiß, was Kunst ist.

Rassisten lieben Sloterdijk

Problematisch wird es, wenn er auf dem Generationenkonflikt als der eigentlichen und einzigen treibenden Kraft der Geschichte herumreitet. Nicht nur ist es eine Banalisierung der Geschichte, die in ihrer Schlichtheit eines ernstzunehmenden Denkers unwürdig ist. Hier landet er auch unvermeidlich bei der Genealogie. Und bei einer blütenreichen Sprache wie der seinen unweigerlich bei mitunter durchaus auch abschätzig gebrauchten Begriffen wie “Bastard” und “Hybrid” und “Kreolisierung”. Der explizite Vorwurf an moderne Gesellschaften, ihre Genealogie vergessen zu haben, ist auch nicht ohne.

Das macht das Buch anschlussfähig an rassistische Diskurse. Auch wenn Sloterdijk hier keine rassistischen Thesen vertritt, mit einer gewissen Prädisposition kann man sie ohne großen Aufwand hineinlesen. Die Logik ist die gleiche. Nur die moralischen Schlüsse sind unterschiedlich.

Argumentativ ist Sloterdijk auch nicht weit weg vom neurechten Ethnopluralismus, wenn er die Zerstörung von Zivilisationen und ihrer Genealogien durch die Moderne beweint. Es ist nur ein kleiner Schritt. Wer, wie Sloterdijk, Abstammung als das bestimmende Element in der Geschichte sieht, darf sich nicht wundern, wenn das auf völkische Weise aufgefasst wird.

Applaus von Neurechten

In seiner offenkundigen Abneigung gegen die Errungenschaften der Moderne und in seinem Versuch, die Ressentiments zu rationalisieren, wird Sloterdijk auch anschlussfähig an (neo-)faschistische Diskurse. Anders als der klassische Reaktionär weiß er: Die moderne Welt ist eine Zumutung. Die Uhr zurückdrehen geht nicht, die alte, vermeintlich bessere Welt kommt nicht wieder.

Der Faschismus teilt diese Erkenntnis. Er offeriert über dieses Grundgefühl hinaus eine Lösung: Die Moderne mit den Werkzeugen zu schlagen, die die Moderne geschaffen hat – vorzugsweise mit ihren technologischen Errungenschaften und ihrer Psychologie. Anstelle der verlorenen alten Ordnung eine neue setzen, die die modernen “Irrtümer” wie Liberalität und Gleichberechtigung beseitigt.

Diesen Schritt macht Sloterdijk nicht und es sei ihm hier nicht unterstellt, dass er ihn machen wollte. Am Ende des Buches freilich sind seine Zukunftsvisionen derart düster, dass ihn ein einschlägig Vorbelasteter von selbst macht. Es überrascht nicht, dass neurechte und identitäre Blogs “Die schrecklichen Kinder der Neuzeit” äußerst freundlich rezensieren.

Dass das dem nach Eigeneinschätzung wahrscheinlich größten deutschen Philosophen zumindest der Gegenwart nicht bewusst war, ist eher nicht anzunehmen.

Hauptzielgruppe: Der elitäre Stammtisch

Hauptzielgruppe sind die ressentimentgeladenen Bildungsbürger. Die immer schon wussten, dass das mit Gleichberechtigung und Liberalismus Blödsinn ist. Die verzweifeln, dass der Pöbel auch wählen darf. Ihre dumpfen Gefühle gießt er in gelahrte Worte, gibt ihnen eine nach außen rationale Erscheinung, erklärt sie kraft seiner Autorität für legitim, ja für die einzig richtige Einstellung, die ein intelligenter Mensch haben kann.

Das macht ihn zum Thilo Sarrazin der Alphabetisierten. Thesen mit Löchern groß wie Scheunentore selbstgefällig zu präsentieren als wären es ewige Wahrheiten, die sich nur keiner auszusprechen traute. Dumpfen Gefühlen gesellschaftlich akzeptierten Ausdruck verleihen und dabei so tun, als sei das auf dem eigenen Mist gewachsen. Mit der plumpen, wenn auch wirkungsvollen, Provokation einen kleinen Skandal auslösen und ordentlich abcashen.

Und willentlich in Kauf nehmen, dass Gruppen gestärkt werden, die die liberale Demokratie und Menschenrechte ablehnen. Im Fall Sarrazins mit dem Gefühl, er habe den Mut eines Löwen bewiesen und verdiene mindestens den Maria-Theresien-Orden für die eigenhändige Rettung des Abendlandes. Bei Sloterdijk mit der Gewissheit, dass wer ihn kritisiert, ohnehin nicht über den nötigen Verstand verfügen kann, ihn zu verstehen.