Lehrerinnenkopftuch, Runde 2

Mehr Rückschritt als Fortschritt

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Das Sitzungssaalgebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Das Sitzungssaalgebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe

FRIEDBERG. (hpd) Walter Otte hat bereits am 14.3.2015 im hpd überzeugend erläutert, warum die neuerliche Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein fatales Signal darstellt. Das BVerfG gibt darin nämlich bei der Güterabwägung zwischen der Religionsfreiheit der Lehrerinnen und der weltanschaulichen Neutralität des Staats dem persönlichen Grundrecht den grundsätzlichen Vorzug.

Anders war es noch beim Kopftuchurteil von 2003. Damals wurde einer muslimischen Lehrerin mit Kopftuch Recht gegeben, weil sie bis dahin keine Zweifel an der Einhaltung der Dienstpflichten auch bezüglich der Neutralität geweckt hatte. Das Kopftuch als solches hielt man ohne Hinzutreten weiterer Gesichtspunkte wie jetzt auch für nicht neutralitätswidrig. Ein entgegen-stehendes Landesgesetz gab es nicht.

Die bisherigen Landesgesetze

In dieser Situation meinte das BVerfG damals, die schulrechtlich zuständigen Länder könnten "Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule" haben. Die Senatsmehrheit zeigte den Ländern eine Fülle von Gesichtspunkten auf, die ggf. im Gesetzgebungsverfahren rechtspolitisch zu würdigen seien, ohne aber eine gesetzliche Regelung ohne weiteres zu empfehlen.

Sinn war es, den Ländern angesichts der religionspolitisch recht unterschiedlichen Verhältnisse differenzierte Regelungen zu ermöglichen. Von speziellen Kopftuchverboten war nicht die Rede. Unmissverständlich machte das Urteil aber klar, dass sich Gesetze nicht spezifisch gegen das Kopftuch richten, christliche Symbole aber unberührt lassen dürfen. Daraufhin erließen nach und nach acht der sechzehn Bundesländer Neuregelungen. Bezeichnend für das meist unaufrichtige Vorgehen der meisten dieser Länder war es, dass sie zwar politisch die Kopftücher (ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien) pauschal untersagen wollten, das aber nicht im Gesetz allzu direkt zum Ausdruck bringen durften.

Die Folge waren ganz unbestimmte Formulierungen, die ein Verbot nur indirekt andeuteten. In Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen jedenfalls war das mit einer erkennbaren Bevorzugung des christlichen Glaubens verbunden, obwohl das BVerfG das Erfordernis der absoluten Gleichbehandlung der verschiedenen Überzeugungsrichtungen mehrfach unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hatte. Nur das weitgehend nichtgläubige Land Berlin mit seinen speziellen religiösen Verhältnissen erließ eine klare und konsequente Regelung, indem es bei Lehrern und Beamten generell jegliche religiöse Kleidung und Symbole untersagte.

Die gesetzlichen Privilegierungen des Christentums trugen den Stempel der Verfassungs-widrigkeit auf der Stirn, so dass im jetzigen Fall die Nichtigerklärung des § 57 Abs. 4 Satz 3 des NRW-Schulgesetzes zwangsläufig war. Auf die insoweit ergangenen neutralitätsfeind-lichen Entscheidungen des BVerwG zur Neuregelung in Baden-Württemberg von 2004 (etwas gewaltsame "verfassungskonforme" Interpretation) und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs von 2007 kann hier nur hingewiesen werden. Eine erneute gesetzliche Privilegierung des Christentums wird nach der neuen Entscheidung des BVerfG nicht mehr möglich sein, weil sonst die Nichtigerklärung droht.

Beschneidung der Landeskompetenz

Das eigentlich Gravierende an der Entscheidung ist Folgendes: Bei neutraler und ordnungsgemäßer Gestaltung der Neuregelungen konnten die Länder bisher Regelungen mit allgemeinem Verbot religiöser Kleidung (wie in Berlin) erlassen, auf Gesetze verzichten (mit Folge der grundsätzlichen Erlaubnis der Kopftücher) oder sie konnten differenzieren-de Regelungen treffen, z.B. mit Rücksicht auf einzelne Landesteile oder mittels regionaler Entscheidungen durch Schulämter oder Schulleiter. So hätte allen Argumenten Pro und Contra (vgl. die Senatsentscheidung vom 27.1.2015 bzw. der erste Teil des Minderheitsvotums von zwei Richtern) Rechnung getragen werden können.

Die jetzige Entscheidung verhindert solche differenzierende allgemeine Regelungen. Gesetze können religiöse Kleidung nunmehr (bei Wahrung der weltanschaulichen Gleichheit) nicht mehr generell untersagen. Daher ist die wohl bewährte Berliner Gesetzgebung stark gefährdet. Zwar lautet Leitsatz drei der neuen Entscheidung: "Wird in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht, kann ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden." Dazu lässt sich sagen: Warum einfach, klar und gerecht, wenn es auch kompliziert, die Schulverwaltung überfordernd, den Schulfrieden und die Integration in Wahrheit gefährdend (s. Walter Otte) geht.

Problematische Stärkung der Religion

Verfassungspolitisch stärkt die Entscheidung angesichts der weiteren Säkularisierung und religiösen Pluralisierung der Gesellschaft unnötig das religiöse Moment. Statt der Pluralisierung durch Betonung der tragenden gemeinsamen Staatsgrundsätze gegenzusteuern, wird die Religion als trennendes Element zusätzlich gerade im staatlichen Raum hervorgehoben. Dabei wäre die Religionsfreiheit der Lehrer(innen) keineswegs unangemessen eingeschränkt, wenn sie lediglich für die Dauer des Unterrichts auf die Zurschaustellung religiöser Bekleidungsstücke verzichten müssen. Demgegenüber klammert die Senatsmehrheit die bisher stets sehr stark betonte dienstrechtliche bzw. beamtenrechtlichen Neutralität im Gegensatz zu Teil 1 des Minderheitsvotums fast aus.

Dabei braucht auch ohne religiöse Optik kein Lehrer seine religiös-weltanschauliche Einstellung vor den Schülern zu verbergen. Lehrer, die bisher aus Neutralitätsgründen auf äußerliche religiöse Hinweise verzichtet haben, könnten sich nunmehr aufgefordert fühlen, ihre Überzeugung zur Abgrenzung ebenfalls deutlicher kundzutun. Das ist desintegrativ. Zudem ist erneut eine Benachteiligung der zahlreichen nichtreligiösen Lehrer zu befürchten, da diesen kein allgemein anerkanntes Symbol oder Kleidungsstück zur Verfügung steht. Sollen sie jetzt dazu übergehen, sich z.B. das weltweite Symbol der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union (IHEU) anzustecken? Dabei müssten sie sich aber nach der neuen Entscheidung entgegenhalten lassen, dass ihre Weltanschauung nicht – wie bei manchen Musliminnen – ein äußeres Kennzeichen fordert, was übrigens auch beim Kreuz nicht der Fall ist. Ungleichheiten sind vorprogrammiert.

Der Senat ist wohl (zutreffend) davon ausgegangen, dass Schule eine staatlich-gesellschaftliche Einrichtung ist, in der eine offene, Weltanschauung hereinnehmende Neutralität angebracht ist, während bei der rein staatlichen Repräsentation (Gerichte, Polizei, Gemeinden) eine streng distanzierende Neutralität gelten muss (Verzicht auf religiöse Symbolik). Aber auch Lehrer repräsentieren in erster Linie die säkulare Staatsmacht, so dass ihnen – anders als den Schülern – mehr Distanz auferlegt werden sollte.

Die Senatsbegründung ist zwar in sich schlüssig, wirft aber doch mehr Fragen auf, als gelöst werden. Das Kopftuchurteil von 2003 war besser, weil es trotz Betonung der Religionsfreiheit der Lehrer den Ländern mehr Möglichkeiten ließ. Es hätte völlig genügt, nur die gesetzliche Privilegierung des Christlichen zu beseitigen.