EuGH: Gewalt gegen Frauen ist als Fluchtgrund anzuerkennen

Sind Frauen in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt, so ist dies ein von EU-Ländern anzuerkennender Grund für die Gewährung internationalen Schutzes. Dies urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am vergangenen Dienstag.

Dem Urteil lag ein Fall zugrunde, in dem eine türkische Staatsangehörige kurdischer Herkunft und geschiedene Muslimin erklärte, von ihrer Familie zwangsverheiratet und von ihrem Ehemann geschlagen und bedroht worden zu sein. Sie war nach Bulgarien geflüchtet und hatte dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, da sie im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei um ihr Leben fürchtete.

Das mit der Sache befasste bulgarische Gericht hatte beschlossen, dem Europäischen Gerichtshof in dieser Rechtssache Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Mit einem Vorabentscheidungsersuchen haben die Gerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Möglichkeit, dem EuGH im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Union vorzulegen. Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Dieser ist unter Zugrundelegung der Entscheidung des Gerichtshofs vom nationalen Gericht zu entscheiden. Die Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Fragen zu befinden haben.

In der Rechtssache "C-621/21 | Intervyuirasht organ na DAB pri MS (Frauen als Opfer häuslicher Gewalt)" urteilte der EuGH am vergangenen Dienstag nun, dass Frauen insgesamt als einer sozialen Gruppe im Sinne der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden können und ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann, wenn die in dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.

Die Richtlinie 2011/951 legt die Voraussetzungen für die Zuerkennung zum einen der Flüchtlingseigenschaft und zum anderen des subsidiären Schutzes für Drittstaatsangehörige fest. Die Flüchtlingseigenschaft ist in Fällen der Verfolgung von Drittstaatsangehörigen wegen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorgesehen. Der subsidiäre Schutz wiederum gilt für jeden Drittstaatsangehörigen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, was insbesondere die Hinrichtung und eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einschließt.

Konkret heißt dies, dass Frauen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann, wenn sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind. Sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt, können sie auch dann Anspruch auf subsidiären Schutz haben, wenn ihnen von einem Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft tatsächlich angedroht wird, wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden.

Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes begrüßte die Entscheidung des Gerichts. "Das Urteil stärkt die Rechtslage für Frauen, die damit als 'soziale Gruppe' anerkannt sind – das heißt, sie erleiden die Gewalt und müssen fliehen, weil sie weiblich sind. Häusliche und sexualisierte Gewalt, Gewalt im Namen der Ehre, weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsheirat – all das sind Fluchtgründe, die insbesondere Frauen betreffen", so Gesa Birkmann, Abteilungsleiterin Themen, Projekte bei Terre des Femmes. "Bisher wurden diese Gewaltformen meist nicht als asylrelevant eingestuft: Geschlechtsspezifische Fluchtgründe blieben unsichtbar. Jetzt wird ein Stück deutlicher: Erlittene geschlechtsspezifische Gewalt ist ein Fluchtgrund. In der Istanbul-Konvention haben sich sowohl Deutschland als auch die EU verpflichtet, gewaltbetroffene Frauen zu schützen. Jetzt muss das Urteil in der Praxis angewandt werden – bisher sind die behördlichen Hürden für asylsuchende Frauen viel zu hoch."

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