Ein Plädoyer gegen Übertherapie am Lebensende

Der nicht verfügte Patient

In deutschen Kliniken wird operiert, katheterisiert und bestrahlt, was die Gebührenordnung hergibt… diese auf dem rückwärtigen Umschlag des im Piper Verlag erschienenen Buches angeführte Feststellung nimmt der Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns zum Anlass für eine sehr kritische Analyse des deutschen Gesundheitswesen mit seinen überbordenden Kosten, seiner Missachtung des Patientenwillens und unmenschlichem Einsatz der Apparatemedizin bei Sterbenskranken.

Im Vorwort fasst der kompetente und politikgestählte Karl Lauterbach als Ergebnis zusammen: "…dass wir in unserer Gesellschaft ein Problem mit der Überversorgung am Lebensende haben."

Bei der Lektüre eröffnet sich ein Inferno: Eine Vielzahl konkreter, vom Autor dokumentierter und sachlich geschilderter brutaler Beispiele zeigt verführte, belogene, geschädigte, finanziell und in der Lebensqualität beraubte und gefolterte (nach Selbsteinschätzung) Patienten, die beim Leser als potentiellem Patienten Entsetzen hervorrufen. Die Schilderungen wirken für von den benannten Erkrankungen Betroffene niederschmetternd, für Angehörige verunsichernd ("habe ich mich durch unzureichende Erkundungen schuldig gemacht?") und für Ärzte bietet sich ein Abgrund möglicher eigener Verfehlungen. So erspart der Autor den Lesern nicht die sarkastische Feststellung: "Nichts lässt sich so gut operieren wie ein gesundes Gelenk".

Thöns setzt sich mit den "Big Playern", wie Klinikkonzernen, Pharmakonzernen, den Großgeräteherstellern und deren Anwendern, Pflegeheimbetreibern, Ärztevertretungen, Krankenkassen und der Politik auseinander. Alle übergehen im persönlichen Gewinnstreben vereint ethische und juristische Grenzen und verletzen gewissenlos die verbriefte Autonomie der Patienten. Der Begriff "Sterbeverhinderungskartell" trifft den Sachverhalt prägnant. Thöns’ Mahnung: "… 'auf gute Ärzte' und 'gute Richter' blind zu vertrauen hilft nicht."

Das Tabu Finanzen im Gesundheitswesen Deutschlands durchbricht der Autor mit bis in die 2. Stelle hinter dem Komma korrekt angegebenen Preisen. Vor allem die an der Entwicklung der Kosten ursächlich Beteiligten werden detailliert benannt.

Die für Medikamente, Operationen, Bestrahlungen und diagnostische Maßnahmen entstehenden Mehraufwendungen werden durch Krankenkassenbeiträge der Gesamtbevölkerung finanziert. Die Unfähigkeit der Krankenkassen, der Politik und der Interessenvertreter der Patienten Änderungen herbei zu führen, machen den Autor fassungslos. Langfristig wirksame Fehlentwicklungen, Verstrickungen der Akteure und Einflussnahme der Lobbyisten können die geschilderte Schieflage erklären, aber nicht rechtfertigen. Thöns formuliert als Ansatz zu einer Besserung: "das Hauptproblem: …Das so dringliche, zeitintensive (und ergebnisoffene! Einfügung durch Rezensenten) Gespräch wird nicht oder nur kaum bezahlt, hochtechnische Eingriffe jedoch überproportional gut. Hier werden falsche Prioritäten gesetzt…"

Auch inwieweit Selbstbestimmungsrechte der Patienten gegen geltendes Recht ausgehebelt werden, hat Thöns untersucht. In einer fingierten Anfrage zur Unterbringung von Komapatienten, in deren Patientenverfügung eine derartige Unterbringung eindeutig ausgeschlossen war, wurde in 90 Prozent aller Anfragen eine Zusage erteilt - mit oft christlich bestimmter Argumentation, man dürfe doch niemanden verhungern bzw. sterben lassen.

Die im ersten Anhang gedruckte persönliche Patientenverfügung kann und soll den autonomen Patientenwillen durchsetzen helfen. Allerdings ist hierzu leider einiges kritisch anzumerken. So wird eine Organspende als obligatorisch vorgegeben, wo doch die allgemeine Regelung freier Wahlmöglichkeit "Ja" oder "Nein" gilt. Die abgedruckte Patientenverfügung scheint auf den Autor persönlich zugeschnitten - die im Buch als Beispiel beschriebenen Patienten sind jedoch überwiegend in höherem Lebensalter. Auch eine angegebene Frist bei Koma "Zustandsbeurteilung als dauerhaft erst nach 1 Jahr, bis dahin Maximaltherapie" erscheint hoch gesetzt bzw. dürfte vor allem für ältere Patienten nicht unbedingt die Option ihrer Wahl sein. Hier gibt es längst bessere, individuelle Standard-Patientenverfügungen mit gebotenen Wahlmöglichkeiten oder noch konkretere, dem Patientenwillen Freiraum lassende und juristisch sicher durchsetzbare Versionen.

Als zweiter Anhang ist die "Schriftliche Stellungnahme vor dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages" eingefügt, die über die im vorliegenden Buch gezeigte Kompetenz den im öffentlichen Raum bekannten Autor Thöns als anerkannten Fachmann für Palliativmedizin und Befürworter einer liberalen patientenorientierten Haltung ausweist.

Ein außerordentlich umfangreiches Quellenmaterial mit 316 Zitatstellen macht dieses Buch auch für den beruflich Interessierten wichtig. Für Laien sind in Fußnoten erklärte Fachbegriffe eine gute Lesehilfe.

Diesem Buch wünsche ich eine weitestgehende Verbreitung als Entscheidungshilfe für Patienten und Angehörige vor notwendigen ärztlichen Maßnahmen, für Ärzte als aufrüttelndes Kompendium zu bewusster und patientenfreundlicher Haltung und für die Politik als Anstoß zu einem Paradigmenwechsel von monetärer zu humaner Gestaltung des Gesundheitswesen.

Matthias Thöns: Patient ohne Verfügung - Das Geschäft mit dem Lebensende, Piper-Verlag 2016, 320 Seiten, ISBN: 978-3-492-05776-9, 22,00 Euro (eBook 17,99 Euro)