Matthias Thöns über "Patienten ohne Verfügung"

"Das möchte ich niemals erleben"

Ein Buch, welches auf seinem Einband auf ein Vorwort von Karl Lauterbach verweist, macht neugierig: Professor Lauterbach, Arzt und Krebsspezialist und Gesundheitsexperte der SPD im Bundestag. Das Buch "Patient ohne Verfügung" des Palliativmediziners Matthias Thöns enttäuscht dann auch nicht, nein es nimmt einen sofort gefangen. Man liest es wie im Rausch.

Es wurde höchste Zeit, dass einmal ein Arzt, mitten aus dem Berufsleben heraus von seinen Erfahrungen und Beobachtungen mit Menschen, die er an ihrem Lebensende betreut, berichtet. Dr. Thöns ist Anaesthesist und Schmerztherapeut und weiß genau, wovon er spricht. Seit über 18 Jahren arbeitet zusammen mit anderen Ärzten und speziell ausgebildeten Fachkräften in einer Palliativpraxis.

Er engagiert sich in verschiedenen Fachverbänden und kämpft für eine größere Verbreitung der Palliativmedizin, die leider immer noch etwas stiefmütterlich behandelt wird. Grund dafür ist, dass Palliaivmedizin viel billiger ist als Apparatemedizin und somit die großen Kliniken, die Pflegeheimbetreiber und die Pharmaindustrie um einen Teil ihrer Einnahmen bringt. Dazu mehr im Buch.

10 Jahre hpd

Mit schonungsloser Offenheit und drastischen Fallschilderungen beschreibt Dr. Thöns die Wirklichkeit im deutschen Gesundheitswesen, deckt mafiöse Strukturen im Umgang mit alten und sterbenden Menschen auf und scheut sich nicht auf die kriminellen Verstrickungen von Ärzten, Pharmaindustrie, Politik und Krankenhausträgern hinzuweisen.

Teilweise vermeint man, den Verwesungsgeruch, die übel riechenden Wunden und andere Ausdünstungen sterbender Menschen in der Nase zu spüren und glaubt, das Piepen der Monitore und all die verschiedenen Geräusche einer Intensivstation zu hören.

Jeder Leser, der einmal einen Verwandten oder Bekannten in ähnlichen  Situationen "begleiten durfte", wird sich in diesem Buch wiederfinden.

Natürlich gibt es auch unkomplizierte und für den Betroffenen wenig mit Schmerzen und Leiden verbundene Fälle, aber diese gehören wohl inzwischen zu den Ausnahmen. "Unser Gesundheitssystem ist krank". Ich höre aus meinem Bekanntenkreis ständig solche "Horrorgeschichten", wie sie Matthias Thöns beschreibt. "Das möchte ich niemals erleben". "Es war so schrecklich bei meiner Mutter oder meinem Vater". "Niemals auf eine Intensivstation, keine Apparatemedizin und vor allem: Niemals ins Heim!!!"

Bezeichnenderweise heisst ein Kapitel: "Das Sterbeverlängerungskartell", das den Intensivstationen in den Kliniken, Heimen und Hospizen und natürlich den Pharmakonzernen viel Geld in die Kassen spült, sich aber um die Wünsche der Patienten und deren Leiden herzlich wenig kümmert.

Übers Geld wird auch an anderer Stelle ausführlich gesprochen, denn nicht nur mit Sterbenden lässt sich viel Geld verdienen, sondern auch mit unnötigen Therapien, seien es nun Operationen, Chemotherapien oder Bestrahlungen. Der Autor erklärt seinen Lesern detailiert, wie Ärzte mit von der Pharmaindustrie gesponserten Falldokumentationen ein Paar Extragroschen verdienen können (es geht um 4 und 5stellige Beträge). Immerhin steckt die Pharmabranche mehr Geld in die Werbung als in die Forschung.

Weiterhin begrüßenswert ist, dass über die Bonusverträge der Chefärzte aufgeklärt wird, deren Monatsgehälter meist über 14 000 Euro betragen und die am Ende des Jahres ein Zubrot – genannt Bonuszahlung – für oft unnötige und gefährliche Therapien erhalten. Diese Bonuszahlungen werden von den Krankenhausträgern mit den Chefärzten ausgehandelt. Ärzte werden am Klinikumsatz mit Erfolgszahlungen beteiligt. Es werden falsche Ansätze gesetzt. Es wird an die Korrumpierbarkeit der betreffenden Ärzte appelliert. 

Besonders drastisch, aber nur die Spitze des Eisberges, ist der Fall eines Göttinger Chirurgen: Dieser hatte für bis zu maximal 60 Lebertransplantationen im Jahr einen Bonus erhalten, aber jedes Jahr "nur" 58 bis 59 Operationen durchgeführt. Ein Schelm, wer dabei Schlechtes denkt. Die Standesvertretungen wissen wohl von diesen Missständen, bekämpfen sie aber nicht wirklich oder wenn, nur halbherzig. Sie werden jetzt aufheulen und die Berichte des Dr. Thöns als unkollegial und übertrieben bezeichnen. Es schade dem Ansehen der Ärzte. Sie werden den Autor als gefährlichen Querulanten bezeichnen.

Ich wünsche dem Buch einen großen Verkaufserfolg, weiten Bekanntheitsgrad und bin gespannt, wie die "verfasste" Ärzteschaft reagiert. Viele Ärzte in Praxis aber auch in Krankenhäusern, vor allem junge Ärzte, die ähnlich denken und dies nicht zum Ausdruck bringen können, werden Dr. Thöns zustimmen. Dazu beschreibt er auch die streng hierarchischen Strukturen im Krankenhaus.

Er befindet  sich guter Gesellschaft. Auf dem Büchermarkt gibt eine Reihe von ganz ausgezeichneten Büchern zu dem Thema: Dr. De Ridder: "Welche Medizin wollen wir";  Prof. Gian Domenico Borasio "Über das Sterben" und "Selbstbestimmt Sterben", Sonia Mikich: "Enteignet"; Markus Grill: "Kranke Geschäfte"; Claus Fussek: "Im Netz der Pflegemafia", Kurt Blüchel: "Heilen verboten -Töten erlaubt"  und nicht zuletzt Prof. Karl Lauterbach: "Die Krebsindustrie" neben vielen anderen.

Dieses Buch soll aufrütteln und den Blick stärken auf die wahren Bedürfnisse von kranken Menschen. Was sich als Konsequenz aus diesem Buch ergibt, lässt sich bereits aus dem Titel ableiten. Es ist ganz wichtig, eine valide Patientenverfügung anzufertigen. Verbieten Sie überflüssige Apparatemedizin  und Übertherapien! Die Aussagen von Ärzten sind kritisch zu betrachten. Lassen Sie sich nicht erpressen oder nötigen: "Sie können doch Ihre Mutter nicht verhungern oder ersticken lassen". Das ist alles mit palliativen Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Seien Sie kämpferisch und vor allem: lesen Sie dieses Buch!

Matthias Thöns: Patient ohne Verfügung - Das Geschäft mit dem Lebensende, Piper-Verlag 2016, 320 Seiten, ISBN: 978-3-492-05776-9, 22,00 Euro (eBook 17,99 Euro)