Street Epistemology

Kann man produktiv mit Theisten diskutieren?

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Peter Boghossian lecturing at Portland State University
Peter Boghossian lecturing at Portland State University

BERLIN. (hpd) Mit überzeugten Gläubigen über Religion zu diskutieren ist keine angenehme Aufgabe. Man weiß vorgebrachte Argumente zwar zu kontern und hat den Eindruck, zweifelsohne die stärkere Position zu vertreten. Doch zu schnell treiben oftmals Rabulistik, begriffliche Umdefinierung oder der Verzicht auf jegliche logische Konsistenz seitens des Gesprächspartners in die Polemik.

Unbeabsichtigt erfüllt man so das Klischee des "Angry Atheist", was es dem Gegenüber vereinfacht, die vorgebrachte Kritik an seinem Überzeugungssystem als schlichtes Symptom des traurigen Lebens ohne Gott oder gar als quasireligiösen Dogmatismus zu werten. Selbst wenn eine sachliche Präsentation der Fakten gelingen sollte: Hat eine sorgsame Abwägung der Argumente jemals einen seinen Glauben in Zweifel ziehen lassen? Sollte man solche Gespräche vielleicht lieber gänzlich vermeiden und seine knappen Ressourcen auf wichtigeres konzentrieren?

Das faszinierende Werk des amerikanischen Philosophen Peter Boghossian, "A Manual for Creating Atheists", beantwortet diese Frage: Die Art und Weise, wie wir gemeinhin mit religiösen Menschen diskutieren, ist zwar zum Scheitern verurteilt. Doch statt aufzugeben schlägt Boghossian einen neuen Ansatz vor, der zu produktiven Auseinandersetzungen mit Gläubigen beitragen soll und welcher in den vergangenen Jahren von einer wachsenden Zahl säkularer Aktivisten in den USA aufgegriffen und weiterentwickelt wurde:

Street Epistemology

Street Epistemology ist kurz gesagt ein dialektischer Ansatz mit dem Ziel, Menschen zur Reflexion über die Verlässlichkeit der Methode zu bringen, die sie nutzen, um zu ihren grundlegenden Überzeugungen zu gelangen. Um das Konzept hinter diesem Neologismus besser zu verstehen, ist eine weitergehende Begriffsbestimmung hilfreich: "Epistemology" oder Epistemologie wird im Deutschen allgemein als Synonym für den philosophischen Zweig der Erkenntnistheorie benutzt. Diese versucht (stark verkürzt) grundlegende Fragen nach den Voraussetzungen und dem Zustandekommen von Erkenntnis bzw. Wissen zu beantworten. Je nachdem, zu welchen Ergebnissen man hierbei kommt, fundiert man eine eigene Epistemologie.

Weitere Informationen zu Street Epistemology findet man im erwähnten Buch von Peter Boghossian oder auf streetepistemology.com. Weiterhin hat Anthony Magnabosco eine große Menge von sehenswerten 5-Minuten Street-Epistemology-Gesprächen auf seinem Youtube-Feed öffentlich zugänglich gemacht.

Das erstrebte Ideal ist dabei die sogenannte Epistemische Rationalität – das Ziel möglichst akkurate Überzeugungen über die Welt zu erlangen. Was daraus aber zwangsläufig folgt, ist, dass wir mit unseren gegenwärtigen Ansichten falsch liegen könnten. Im Angesicht neuer Informationen müssen wir demnach in der Lage sein unsere Positionen anzupassen. Diesen Zustand der Reflektion über die potentielle Unwahrheit unserer Standpunkte bezeichnet Boghossian als doxastische Offenheit (vom altgriechischen δόξα – Meinung).

Die Praxisrelevanz dieser Überlegung lässt sich gut an einem in säkularen Kreisen prominenten Beispiel zeigen: Die Debatte zwischen dem US-Kreationisten schlechthin, Ken Ham, und dem Wissenschaftler und Fernsehmoderator Bill Nye im Februar 2014. Das Thema, die Wissenschaftlichkeit des junge-Erde-Kreationismus, ist hierbei nicht weiter von Interesse - wirklich spannend waren die epistemischen Gegensätze der Kontrahenten, die sich durch die gesamte Diskussion zogen und durch eine Frage aus dem Publikum am Ende offenkundig wurden: Was wäre notwendig, damit die Disputanten ihre Positionen ändern würden? Während Nye einige klare und schlüssige Punkte anbrachte, die ihn von der Evolutionstheorie abrücken ließen, lavierte Ham eine Zeit herum, sagte aber im Kern, dass ihm kein Beleg dieser Welt von seinem Glauben abbringen könnte.

Eine Reaktion wie die von Ken Ham ist das exakte Gegenteil epistemischer Rationalität: Epistemischer Glaube, in Boghossians Definition die Behauptung von Wissen über die Realität, dass durch die Evidenz nicht gegeben ist. Folgerichtig schirmen sich die eigenen Positionen von der tatsächlichen Realität ab und entziehen sich so der Anpassung auf Basis neuer Fakten. Die Folge: Doxastische Geschlossenheit – Die eigenen Überzeugungen sind unangreifbar wahr. Dieses Prinzip findet sich in Ideologien oder Verschwörungstheorien, am prominentesten aber in der Religion. All diese Strukturen fördern epistemischen Glauben und induzieren dadurch doxastische Geschlossenheit.

Das Problem der meisten Diskussionen mit religiösen Menschen ist demnach, dass sie auf der falschen Ebene ansetzen: Säkulare versuchen Gläubige mit Fakten zu widerlegen, für diese sind Fakten jedoch (bewusst oder unbewusst) nicht mehr als Vorschub für ihre eigentliche Überzeugung.

Hier setzt Street Epistemology an: Man versucht den weltanschaulichen Differenzen auf ihren epistemologischen Grund zu gehen und auf diesem Weg einen Schimmer doxastischer Offenheit zu finden. Hierfür muss man natürlich prinzipiell selbst offen für Neues sein. Nichts bindet uns, außer unserem Streben nach Wahrheit und in diesem Sinne sollte sich eine Diskussion um Religion auf eine zentrale Frage konzentrieren: Warum glaubst du und ist das ein guter Grund? Alles andere ist im Grunde austauschbar und irrelevant. Statt zu streiten, sollte man eher in ein Lehrer-Schüler-Verhältnis kommen. Man selbst als Schüler, wohlgemerkt, da einem diese Position in die Lage versetzt, die Konversation zu lenken.

Zentral hierfür ist die Sokratische Methode: Statt Fakten und Argumenten stellt man Fragen, bemüht sich um akkurate Definitionen damit man das Gegenüber nicht missversteht und versucht auf diesem Weg die Positionen des Anderen auf Widersprüche zu überprüfen und die epistemische Basis seiner Überzeugungen zu entmanteln. Speziell im Falle von Street Epistemology vermeidet man dabei auf irgendeine Form von Argument der anderen Seite einzugehen, sei sie empirischer (Belege der Großen Flut, Schöpfung, etc.) oder logischer (Gottesbeweise, Pascals Wette, etc.) Natur, auch wenn man sie widerlegen kann. Falls man dazu gezwungen ist auf etwas Derartiges zu reagieren, könnte man als Gegenfrage etwas wie "Warst du bereits von deiner Religion überzeugt, bevor du diese Argumente gehört hast?" entgegnen. Die Argumente sind in den meisten Fällen nachträgliche Rationalisierungen, die ehrliche Antwort ist also fast immer "Ja". Von da aus kann man sich weiter in Richtung der epistemischen Basis vortasten.

Wenn die Fakten und Argumente beiseite geschafft sind, fällt früher oder später der Begriff „Glaube“. Hier sollte man zwingend so lange nachfragen, bis man eine kohärente Definition erhält. Dann kann man die Verlässlichkeit (epistemischen) Glaubens ergründen: Gibt es Szenarien, in denen Glaube zu falschen Schlüssen führen kann? Kann man mit Hilfe von Glauben erkennen, welche von zwei sich ausschließenden Überzeugungen der Wahrheit entspricht? Wie unterscheidet man wahren Glauben von Wahnsinn?

Die Authentizität der Wunder

Das Beispiel anderer Religionen sollte in diesem Kontext stets griffbereit sein: Wenn spirituelle Erlebnisse, Wunder, Offenbarungen, etc. angeführt werden, stellt sich die Frage, wie deren Authentizität evaluiert werden kann. Wenn über das jeweilige heilige Buch gesprochen wird wäre es gut zu wissen, wie man sicher sagen kann, welches der vielen Heiligen Bücher das korrekte ist. Und wenn all dies zirkulär zum "Glauben" zurückführt, ändert das nichts am Problem: "Wenn ein Muslim, Hindu, Mormone, etc. mit seinem Glauben/heiligen Buch/Argumenten falsch liegt – wie kann er seinen Fehler erkennen?" Eine simple Frage, die häufig überraschend effektiv ist, da epistemischer Glaube zwar dazu motiviert, alles in das eigene Weltbild zu integrieren, was die Grundannahme bestätigt, Falsifzierbarkeit jedoch ausgeblendet wird. Wie auch immer die Antwort ausfällt: Man sollte weiter versuchen die Verlässlichkeit der so implizierten epistemologischen Methode zu ergründen.

Diese Form der Gesprächsführung kann für Gläubige schnell unangenehm werden, da diese sich selten (falls überhaupt) Gedanken über ihre Epistemologie machen. Man kann mit rhetorischen Taschenspielertricks und Ausweichmanövern rechnen, die die eigentliche Frage unbegründet lassen - Ausführungen zum "Was" sie glauben, aber nicht zum "Warum". Doch man sollte sich davon nicht ablenken lassen und am Thema bleiben, dabei jedoch nie aggressiv werden. Am besten ist es, das Gehörte zusammenzufassen, zu fragen, ob der andere der Zusammenfassung zustimmt und dann etwas in Richtung von "Hm, aber ich verstehe immer noch nicht, wie das … erklärt", zu sagen.

Kommt man jemals an den Punkt, an dem der Gesprächspartner zugibt, dass er keine Antwort hat, kann man die Unterhaltung beenden. Man hat einen Schimmer doxastischer Offenheit erzeugt. Jede weitere Diskussion ist an diesem Punkt kontraproduktiv. Stattdessen kann man den Gläubigen bitten, weiter darüber nachzudenken und ihn einladen, die Unterhaltung später fortzusetzen.

Wenn man erfolgreich war, muss man nicht mehr polemisch fragen, warum sich ihr Gott vor einem ehrlichen Wahrheitssucher wie einem selbst versteckt. Wenn sie von der Aufrichtigkeit des Gesprächs überzeugt sind, werden sie sich das schon selbst fragen.

Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den Tobias Wolf bei den Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg (EHBB) gehalten hat.