(hpd) Österreich und Deutschland haben ein eigenes System, mit Religionsgemeinschaften umzugehen. Was offiziell unter Garantie der Religionsfreiheit läuft, ist zu deren Gegenteil mutiert.
Glauben oder nicht glauben darf in Österreich jeder, was er will. Das ist wahr. Theoretisch. Die einschlägigen Bestimmungen klingen nach demokratischem Rechtsstaat: „Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist Jedermann gewährleistet. Der Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen. Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden, insofern er nicht der nach dem Gesetze hierzu berechtigten Gewalt eines Anderen untersteht.“ Artikel 14 des österreichischen Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus dem Jahr 1867.
Dieses Gesetz ist gemeinsam mit der Europäischen Menschenrechtskonvention bis heute Grundlage der Menschenrechte in Österreich. In Deutschland formuliert es das Grundgesetz weniger feierlich. Artikel 4 des Grundgesetzes:
„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“
„(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“
Mit diesen Bestimmungen einher geht eine Vielzahl von Privilegien, mit der beide Staaten meinen, die Religionsfreiheit zu schützen. In beiden Ländern gibt es verpflichtenden Religionsunterricht für Kinder, deren Eltern sie in bestimmte Religionsgemeinschaften eintragen haben lassen. In beiden Ländern dürfen bestimmte Religionsgemeinschaften mit staatlicher Hilfe verpflichtende Mitgliedsbeiträge einheben. In beiden Staaten greift der Staat bestimmten Religionsgemeinschaften finanziell unter die Arme. In beiden Staaten werden bestimmten Religionsgemeinschaften Mitspracherechte eingeräumt. In beiden Staaten wird dieses Verfahren mit der weltanschaulichen bzw. religiösen Neutralität des Staates argumentiert. Das sichere den jeweiligen Religionsgemeinschaften Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme.
Rechte eben nicht für alle
Mag sein. Nur ist es auch, um ein abgedroschenes Zitat des Kirchenkritikers Johann Wolfgang von Goethe zu verwenden, des Pudels Kern. Diese Rechte gelten weder für alle Religionsgemeinschaften noch für alle Mitglieder von Religionsgemeinschaften. Und selbst die Mitglieder der privilegierten, sprich: anerkannten Religionsgemeinschaften kommen nur in den Genuss individueller Privilegien, wenn sie sich deklarieren und organisieren. In Österreich machen sie das am Meldezettel und auf praktisch allen relevanten Formularen am Standesamt, selbst am Totenschein wird das Religionsbekenntnis vermerkt. In Deutschland steht es auf dem Lohnzettel. Das mag in Österreich nicht der Fall sein – trotzdem weiß auch jeder Arbeitgeber, welcher Religion man zumindest im Schulalter angehört hat: Das Religionsbekenntnis ist auf allen Schulzeugnissen vermerkt. Das führt jeden gesetzlichen Schutz vor religiöser Diskriminierung am Arbeitsplatz ad absurdum.
Die Vorgangsweise mag die Freiheit der Religionsgemeinschaften sichern. Die Freiheit Religionsangehöriger wird so zur Karikatur ihrer selbst.
Das Wesen einer Religions- und Gewissensfreiheit ist zuallererst, sich NICHT vor einer staatlichen Behörde deklarieren zu müssen. Es geht eine Behörde, es geht einen Staat nichts an, woran seine Bürgerinnen und Bürger in ihrer Freizeit glauben oder ob sie an nichts glauben. Genauso gut könnte man verlangen, Parteimitgliedschaften oder ähnliches auf dem Melde- oder Lohnzettel zu vermerken. In liberalen Demokratien wie Frankreich und den USA würde aus diesen Überlegungen heraus keine Behörde je einen Bürger nach Religionszugehörigkeit fragen. In Deutschland und Österreich gibt es diesen liberalen Freiheitsbegriff seit jeher nicht. Hier wird die Freiheit des Gewissens bürokratisch verwaltet. Den Verwalteten fällt der Widerspruch nicht einmal auf, wie schon W.I. Lenin bemerkt hat: „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“
Ähnlich wie im Fußball
Dieser Begriff der Religionsfreiheit sichert nur die Freiheit der Religionsgemeinschaften – auf Kosten ihrer Mitglieder. Und selbst davon profitieren nur einige Religionsgemeinschaften. In Deutschland sind das de facto nur die katholische und die evangelische Kirche. Das passiert auf Basis des Staatskirchenrechts. In einem Land, das offiziell weltanschaulich neutral ist und keine Staatskirche hat, ein Widerspruch in sich. Aktuell wird diskutiert, ob nicht ein Religionsrecht zeitgemäßer wäre. Sonst kommen nicht einmal die muslimischen Vereine in den Genuss der kirchlichen Privilegien. In Österreich ist das hierarchisch-bürokratische System nach außen neutraler. Es unterscheidet zwischen anerkannten Religionsgemeinschaften, eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften und religiösen Vereinen. Ähnlich wie im Fußball. Nur, dass hier nur der Aufstieg in eine höhere Liga vorgesehen ist, verbunden mit zahlreichen Privilegien. Um einen Abstieg brauchen sich die Religionsgemeinschaften keine Sorgen zu machen. Wer einmal am Kuchen mitnaschen durfte, darf das Zeit seiner Existenz. Weder missionarische Misserfolge noch finanzielle Misere können daran etwas ändern.
So neutral, wie sich das Gesetz gibt, ist es lange nicht. Mehr oder weniger offiziell brüsten sich seine Väter damit (Mütter hatte das Gesetz keine), damals habe man verhindern wollen, dass die Zeugen Jehovas zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft würden. Als das scheiterte, wurden die Bestimmungen, unter denen eine Religionsgemeinschaft in die oberste Spielliga aufsteigen durfte, gelockert.
Wir brauchen ja unsere Ansprechpartner, wenn wir mit den Religionen verhandeln wollen, lautet eine berühmte Begründung für solche eher originellen Systeme.
eligionen sind Weltanschauungen. Die können nicht verhandeln. Das können nur deren Vertreter. Ob es Aufgabe eines Staates ist, mit ihnen dauernd „Dialoge“ zu führen, lässt sich trefflich streiten. Noch mehr darüber, worin der Sinn eines solchen „Dialogs“ bestehen soll. Zumal die Vertreter der Religionsgemeinschaften so gut wie nie die Anliegen all ihrer Mitglieder repräsentieren. Die Regelung erhöht bei dezentralen Religionen wie dem Islam und dem Judentum nur den Druck für einzelne Gemeinden, sich einer zentralen Vertretungsbehörde unterzuordnen. Wie wenig die Angehörigen das häufig wollen, zeigt die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich: Die bringt es trotz des Drucks durch die Gesetzeslage nur auf einen Organisationsgrad von 20 Prozent. Das in einem Land, das wie Deutschland für seine Vereinsmeierei belächelt wird.
Bequemer Pseudo-Dialog, der nichts ändert
Für Bürokraten ist eine solche Regelung bequem. Auch für politische Interessensgruppen. Und für die Vertreter der anerkannten Religionen. Man hält einen Pseudo-Dialog aufrecht, der zwei Ziele hat: Den Religionsgemeinschaften Privilegien zuzuschanzen und irgendwie zu dokumentieren, dass Religionen eh wichtig sind und man mit ihnen halt redet.
An gesellschaftlichen Realitäten ändert das nichts. So erreicht man weder Migranten, wie oft behauptet wird, noch Fundis, wie man ebenfalls gerne sagt. Deren Interessen liegen anderswo: In ihrem täglichen Leben oder in ihrer religiös inspirierten Fantasiewelt. Das einzige, was dieses System erreicht, ist, dass Menschen dafür bezahlen müssen, auch wenn sie religiös sind. Die Gewissensfreiheit ist staatlicherseits abgeschafft. Atheisten hält das System schön draußen. Die haben keine Religion – und im „Dialog“ nichts mitzureden. Nur für die Privilegien dürfen sie bezahlen.
Max Bitter