Erster Lehrstuhl für „Würdevolles Lebensende“

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Collage F. Lorenz

BRÜSSEL. (iheu/hpd) DeMens.nu, die Schirmorganisation der Humanisten in Flandern und Brüssel, hat den weltweit ersten Universitätslehrstuhl für das „Würdevolle Lebensende“ geschaffen. Der neue Lehrstuhl befindet sich an der Fakultät für Medizin und Pharmazie an der Freien Universität Brüssel (VUB). Er wird alle Themen um das Lebensende herum thematisieren, ohne Vorurteile in Bezug auf Optionen wie Sterbehilfe.

Sterbehilfe in Belgien

Das belgische Parlament verabschiedete 2002 ein Sterbehilfe-Gesetz, das Fachleute als das liberalste der Welt bezeichnen. Das mit deutlicher Mehrheit beschlossene Gesetz erlaubt eine Tötung auf Verlangen für unheilbar kranke Patienten, die nicht in absehbarer Zeit sterben werden, sowie für Menschen mit andauernden psychischen Leiden. Der sterbewillige Kranke muss demnach eine mündliche oder schriftliche Willenserklärung abgeben. Der Arzt muss sicher sein, dass der Patient leidet und nach dem Stand der Wissenschaft sein Zustand unumkehrbar ist. Ein weiterer Facharzt muss zu Rate gezogen werden.

Die belgische Föderale Kommission konnte 2006 in einer Evaluation keine Verstöße gegen das Gesetz feststellen. Insgesamt sind für die Jahre 2004 und 2005 in Belgien 742 Fälle von aktiver Sterbehilfe dokumentiert, das macht durchschnittlich 31 Fälle pro Monat. 98% der Betroffen entschieden sich erst in der leidvollen Situation für Sterbehilfe, 93% der Sterbenden wären kurze Zeit später ohnehin verschieden, so der Bericht der belgischen Kommission weiter, und zwar überwiegend (83%) an Krebs. Als erste beratende Ärzte wurden Spezialisten und Allgemeinmediziner herangezogen (44 bzw.42%), 13% waren in palliativer Medizin ausgebildet. Der zweite Berater war ein Psychiater oder Spezialist (55 bzw. 45%), von 742 Fällen zogen 391 noch einen zusätzlichen ärztlichen Berater hinzu, was für den Prozess nicht obligatorisch war. Zudem wurden insgesamt 294 Palliativteams konsultiert.

Körperlich litten die Sterbenden unter Anderem an Unterernährung, Schmerzen, Blutungen, wiederholten Transfusionen und Lähmungen. Die psychischen Leiden beinhalteten Abhängigkeit, Hoffnungslosigkeit oder den Verlust der Würde.

Die belgische Föderale Kommission zur Kontrolle und Evaluation der Euthanasie kam in ihrem Bericht zum Ergebnis, dass es keinerlei Anzeichen für irgendeinen Verstoß gegen die Bedingungen gemäß Gesetz gab - es wies demnach nichts auf einen möglichen Missbrauch des Gesetzes hin.

Hier nun der Artikel von Matt Cherry, dem Internationalen Repräsentanten der IHEU, zum ersten Lehrstuhl für ein Würdevolles Lebensende im Wortlaut:

Respekt für die Selbstbestimmung

Der Respekt für die Selbstbestimmung ist ein zentraler Wert für deMens.nu. Dieser Respekt für die Lebensentscheidungen des Individuums erstreckt sich auf ihre Entscheidungen am Ende ihres Lebens. Bisher gab es jedoch noch nie einen Universitätslehrstuhl, der dem Studium und dem Respekt gegenüber den Rechten tödlich erkrankter Menschen gewidmet war.

Die Forschung an der VUB ergab, dass nahezu der Hälfte der Sterbefälle in Flandern eine Entscheidung vorausgeht, welche den Moment des Todes beeinflussen könnte, einschließlich die Wahl der Behandlung, palliativen Sedierung oder Sterbehilfe. Leider werden diese Entscheidungen häufig einseitig von den behandelnden Ärzten getroffen.

Wim Distelmans, Professor für Palliative Medizin an der VUB und der erste Inhaber des Lehrstuhls für ein „Würdevolles Lebensende“ betont die Wichtigkeit der Koordination von Pflege und Entscheidungsfindung am Lebensende: „Mit diesem Lehrstuhl möchten wir sichergehen, dass die Bevölkerung und die Pflegekräfte über alle möglichen Optionen umfassend informiert sind. Gleichzeitig werden wir in weitergehende Forschung investieren.“ Wim Distelmans arbeitet auch mit Netzwerken zusammen, die sich dem würdevollen Lebensende verschrieben haben.

Für deMens.nu ist die Finanzierung des Lehrstuhls ein logisches Pendant zu ihrem Kerngeschäft: die Entwicklung und Ausweitung humanistischer Dienste. In ihren Humanistischen Zentren (huizenvandeMens or HäuserfürMenschen) kann jeder mit einem Problem ein offenes Ohr finden. Zudem können Menschen, die Fragen zum würdevollen Lebensende haben, humanistische Berater konsultieren. Zu den Diensten in den Humanistischen Zentren gehören Rat und Beistand für Menschen, die Anweisungen für ihre eigene Sterbehilfe (Patientenverfügungen) aufsetzen wollen.

Belgien ist das einzige Land der Welt mit einer detaillierten Gesetzgebung in Bezug auf das Lebensende. Es hat de facto ein Patientenrechts-Gesetz, ein Palliativpflegegesetz und ein Sterbehilfegesetz. Mit diesem neuen Lehrstuhl für ein Würdevolles Lebensende bleibt Belgien seiner Pionierrolle treu.

Übersetzung: Fiona Lorenz

 

Der Artikel erschien bereits am 15. Juli 2011 bei der IHEU

 

Depenalisierung der Sterbehilfe (13. Februar 2008)