Dokumentation: Spaniens gestohlene Babys

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Identitätskrise: Der neugeborene Randy Ryer 1971 mit der Frau, die ihn kaufte. Foto: BBC

SPANIEN. (hpd) Bis zu 300.000 könnte die Zahl der Kinder betragen, die seit dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs ihren Müttern unter Lügen entzogen und an kinderlose Paare verkauft wurden. Am Menschenhandel in Spanien, der bis in das letzte Jahrzehnt des vorherigen Jahrhunderts angedauert haben soll, waren Ärzte, Krankenschwestern sowie Pfarrer und Nonnen beteiligt. Heute Abend sendet die BBC erstmals eine Dokumentation der Geschichte von „Spaniens gestohlenen Babys“.

Bekannt war seit langem, dass schon seit der Frühzeit der Franko-Diktatur rund 30.000 Kinder aus ideologischen Gründen ihren Müttern gestohlen wurden. Der Kinderraub begann um 1939, mit dem Sieg des faschistischen Putschisten Francisco Franco über die Verteidiger der Zweiten Spanischen Republik, die laizistisch und antiklerikal ausgerichtet und den traditionellen Eliten deshalb unbequem war. Zu Tausenden mussten damals traurige und erschütterte Frauen die Kliniken verlassen, weil Ärzte und Schwestern den jungen Müttern von einer Totgeburt berichtet hatten. Unzählige Lügen, wie sich später herausstellte. Denn in Wahrheit wurden die Neugeborenen in die Hände von kinderlosen Paaren gegeben, um sie dem Einfluss von regimekritischen, republikanisch gesinnten Eltern zu entziehen.

Auch Inhaftierten wurden die Kinder weggenommen. Der Staat habe für die Kinder der Gefangenen eine Umerziehung als nötig erachtet, zitierte die Times im März Ricard Vinyes, Autor eines Buchs über diese Ereignisse. Es habe stolze Berichte der Regierung gegeben, wie viele Kinder auf diese Weise jährlich „willkommen“ geheißen wurden. Den Heranwachsenden wurde nicht nur erlaubt, ihren Namen zu ändern, um ihren Verbleib zu verschleiern. „Sie wurden mit der Erklärung aufgezogen, dass ihre Eltern Mörder gewesen wären, weshalb viele niemals das Bedürfnis nach einem Auffinden gehabt hatten.“

Die meisten der so verschleppten Kinder aber blieben über Jahrzehnte im Unwissen, weil sie bei ihrer Entführung zu jung für jede Erinnerung gewesen waren. Der Spanier Antonio Barroso erfuhr vor vier Jahren von der wahren Identität seiner vermeintlichen Eltern. Ein Freund rief ihn an und berichtete, dass dessen auf dem Sterbebett liegender Vater ihm erklärt hatte, dass er und Barroso als Kinder gekauft wurden. Die Süddeutsche Zeitung legte Motive für den „staatlich legalisierten Kindesraub“ ausführlicher dar.

Rund 8.000 US-Dollar seien von wohlhabenden Eltern für einige dieser „Adoptionen“ gezahlt worden. Und auch nach Ende der Franko-Diktatur blieb das System erhalten. Der Menschenraub und –handel wurde von einem Netz aus willfährigen Ärzten, Krankenschwestern, Nonnen und Pfarrern betrieben. Erst 1987 begann die spanische Regierung, Adoptionen gesetzlich zu regulieren. Bis in die späten 90er Jahre soll das in Jahrzehnten etablierte System des Menschenhandels gearbeitet haben, heißt es. Enrique Vila, Vertreter der Opferorganisation ANADIR (Nationale Vereinigung von irregulär Adoptierten) mit fast 1.000 Mitgliedern, sprach von einem „mehr oder weniger landesweiten Netzwerk.“

Antonio Barroso, der zur Aufarbeitung die Stiftung ANADIR gegründet hatte, reichte zum Jahreswechsel schließlich eine mit 261 Fällen dokumentierte Sammelklage beim spanischen Generalstaatsanwalt Cándido Conde-Pumpido ein. Barroso war nach einem Gentest an die Öffentlichkeit gegangen, woraufhin sich immer mehr Betroffene gemeldet hatten. Die spanische Justiz untersucht derzeit etwa 900 Fälle, bei rund 162 sei bereits ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden. Nur 38 Fälle wurden mangels Belegen zu den Akten gelegt.

Die Daily Mail berichtete vorab über die BBC-Dokumentation über „Spaniens gestohlene Babys“, welche heute Abend zum ersten Mal ausgestrahlt werden soll. Dabei wird auf Expertenschätzungen verwiesen, denen zufolge bis zu 15 Prozent aller Adoptionen in Spanien zwischen 1960 und 1989 zu diesen Fällen des Kinderraubs zählen könnten.

Foto: BBC
Randy Ryder mit Manoli Pagador, seiner
wahrscheinlich wirklichen Mutter. Foto: BBC
Die BBC-Sendung begleitet nun unter anderem Manoli Pagador, eine Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn, um herauszufinden, ob der im US-amerikanischen Texas aufgewachsene 40-jährige Randy Ryder ihr leiblicher Sohn sein könnte. In der Dokumentation kommt auch die 89 Jahre alt Ines Perez zu Wort. Perez berichtete, ein Pfarrer habe sie 1969 ermutigt, eine Schwangerschaft vorzutäuschen, damit sie ein Baby aus einem Madrider Krankenhaus erhalten könne. „Der Pfarrer gab mir ein Polster, um es vor meinem Bauch zu tragen.“

Ob jemals die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommen wird, ist ungewiss. „Es gibt sehr wenig politischen Willen, der Sache auf den Grund zu gehen“, wird Katya Adler, Journalistin der BBC-Dokumentation, zitiert. ANADIR will versuchen, mit Hilfe einer DNA-Datenbank die gestohlenen Kinder und ihre Eltern wieder zusammen zu bringen. Aber nicht nur Tausende Unschuldige und wichtige Teile ihres Leben wurden offenbar in den Abgrund gezogen, sogar Unbeteiligte können die dunklen Machenschaften um den Jahrzehnte währenden Kindesraub im Krankenhaus erschüttern. Denn in einem News-Clip der Huffington Post stellt der Journalist Philip Williams fest: „Eine der wirklich traurigen Konsequenzen dieser ganzen Geschichte ist, dass Menschen, welche den Tod ihres Kindes schon akzeptiert hatten, sich nun fragen müssen – wurde mein Kind gestohlen und durch eine andere Familie in einem anderen Namen aufgezogen?“

Arik Platzek