Keine Feigheit vor dem Islam

Johann Hari für einen konsequenten Atheismus.

 

Diese Kolumne klagt die Feigheit an – darunter meine eigene. Sie beginnt mit der Geschichte

eines Romans, den Sie nicht lesen können. Der Juwel von Medina wurde von einer Journalistin namens Sherry Jones geschrieben. Er berichtet vom Leben Aischas, einem Mädchen, das im Alter von sechs Jahren mit einem 50 Jahre alten Mann namens Mohammed ibn Abdallah verheiratet wurde. An ihrem Heiratstag spielte Aischa auf einer Schaukel außerhalb des Hauses. Innen wurde sie verlobt. Sie erfuhr zum ersten Mal davon, als man ihr verbot, draußen mit den anderen Kindern zu spielen. Als sie neun Jahre alt war, nahm man sie fort, damit sie mit ihrem Ehemann, nun 53, leben konnte. Er hatte Sex mit ihr. Als sie 14 Jahre alt war, bezichtigte man sie des Ehebruchs mit einem Mann, der ihrem Alter ein wenig mehr entsprach. Nicht lange danach verfügte Mohammed, dass seine Ehefrauen ihre Gesichter und Körper verhüllen mussten, obwohl dies keine andere Frau in Arabien tat.

Diese Geschichte können Sie heute nicht mehr lesen – außer im Koran und im Hadith. Der Mann namens Mohammed ibn Abdallah wurde Muslimen als „Der Prophet Mohammed“ bekannt, also ist unsere Möglichkeit, diese Geschichte zu untersuchen, verkümmert. Das Juwel von Medina wurde von Random House gekauft und als Bestseller vermarktet – bis eine Lehrkraft der Universität von Texas Druckfahnen erkannte und es zur „Gefahr für die nationale Sicherheit“ erklärte. Sherry Jones Herausgeber hat das Buch eingestampft. Es ist verschwunden.

In Europa heben wir endlich die verbliebenen Blasphemiegesetze auf, die eine Kritik des Christentums unterdrücken*. Doch werden sie fortgesetzt durch ein neues Blasphemiegesetz, das eine Kritik des Islams verhindert – vollstreckt nicht durch den Staat, sondern von Jihadisten. Ich habe ernsthaft in Betracht gezogen, diese Kolumne nicht zu schreiben, aber das Recht, die Religion zu kritisieren, ist so wertvoll – und hart erkämpft – wie das Recht, die Regierung zu kritisieren. Wir müssen davon Gebrauch machen, oder es verlieren.

Einige Menschen werden sofort fragen: Warum sollte man die Religion kritisieren, wenn das so viel Ärger auslöst? Die Antwort lautet: Sehen Sie sich unsere Geschichte an. Wie hat das Christentum seine Fähigkeit verloren, Menschen mit Fantasmen um Sünde und Hölle zu terrorisieren? Wie kam es dazu, dass es die Verbreitung von Scham für natürliche Triebe eingestellt hat – vorehelicher Sex, Selbstbefriedigung oder Homosexualität? Weil Kritiker über die religiösen Geschichten nachgegrübelt haben und große Löcher in Logik und Moral darin entdeckten. Sie stellten Fragen. Wie konnte ein Engel eine Jungfrau befruchten? Warum befiehlt der Gott des Alten Testaments seinen Anhängern, Selbstmord zu begehen? Wie kann ein Mann in einem Wal überleben?

Neuinterpretation und Spott haben das vergitterte Christentum geöffnet. Stelle genügend Fragen und der Glaube wird unausweichlich immer weiter und weiter in die neblige Sphäre der Metapher zurückgedrängt – wo er mit geringerer Wahrscheinlichkeit Menschen dazu bringen wird, dafür zu töten und zu sterben. Aber zweifelnde Muslime und die Atheisten, die sie unterstützen, werden davon abgehalten, diesen Weg zu gehen. Sie können nicht fragen: Was sagt es über Mohammed aus, dass er ein kleines Mädchen heiratete, oder dass er ein jüdisches Dorf zerstörte, weil sich die Bewohner weigerten, ihm zu folgen? Man muss nicht viele Theo Van Goghs ermorden oder viele Sherry Jones einstampfen, um den Rest einzuschüchtern. Die größte Zensur ist die innere Zensur: Sie ist in all den Büchern, die niemals geschrieben werden, und in all den Filmen, die niemals gedreht werden, weil wir uns fürchten.

Wir müssen diese Doppelmoral eingestehen – und dass sie am Ende Muslimen schaden wird. Eine Religion von der Kritik zu isolieren – sie mit einem Elektrozaun namens „Respekt“ zu umgeben – lässt sie in ihrem kindischsten und fundamentalistischsten Entwicklungsschritt verkümmern. Die schlauen, fragenden und instinktiv moralischsten Muslime – die Mehrheit – lernen, leise zu sein, oder sie werden gemieden (bestenfalls). Wie würde das Christentum heute aussehen, wenn man George Eliot, Mark Twain und Bertrand Russel eingestampft hätte? Nehmen Sie die abstoßenste ländliche Kirche in Alabama und multiplizieren sie sie mit dem Faktor 100.

Da Jones das Thema eröffnet hat, lassen Sie uns, als ein Modell, wie wir diese Diskussion führen können, einen Blick auf Mohammeds Heirat mit Aisha werfen. Es ist wahr, dass das andere Zeiten waren und es normal für erwachsene Männer gewesen sein mag, mit vorpupertierenden Mädchen Sex zu haben. Die Quellen sind unklar, was diese Sache betrifft. Jedoch, gleich welcher Kultur man angehört, kann Sex mit einem unvollständig entwickelten Körper eine äußerst schmerzhafte Erfahrung sein. Unter Wikingern war es gewöhnlicher als heute, dass einem der Arm abgeschlagen wurde, aber das heißt nicht, dass es keine Qual war. Wenn überhaupt, dann wäscht Jones Buch diesen Umstand weiß und legt nahe, dass Mohammeds „Behutsamkeit“ meint, dass Aisha es genossen hat.

Die Geschichte von Aisha fördert eine andere Diskussion, die Fundamentalisten zu Gute kommt. Man kann nicht sagen, dass Mohammeds Entscheidung, ein junges Mädchen zu heiraten, den Gegebenheiten seiner Zeit gemäß behandelt werden muss, und dann verlangen, dass wir seinen moralischen Vorstellungen aufs Wort folgen. Entweder sollten wir seinem Beispiel im wörtlichen Sinne folgen, oder wir sollten es kritisch untersuchen und für uns selbst entscheiden. Die Diskussion dieses Widerspruchs impft unausweichlich Zweifel ein – den Todfeind des Fanatismus.

Warum bejubeln also viele Menschen „Das Leben des Brian“ und „Jerry Springer: The Opera“ und fangen dann wie Mary Whitehouse an zu gackern, wenn es um den Islam geht? Wenn ein Buch über Jesus eingestampft würde, weil sich Fanatiker in Mississippi darüber beschweren könnten, dann wären wir wütend. Ich kann das nachvollziehen. Ich schäme mich zu sagen, dass ich gehässiger wäre, wenn ich über das Christentum schreiben würde. Ein Grund ist Furcht: Das Bild von Theo Van Gogh, der auf dem Bürgersteig liegt und schreit „Können wir nicht einfach darüber reden?“ Natürlich rationalisieren wir das, indem wir fragen: Macht ein Witz, eine Kolumne, ein Roman einen so großen Unterschied? Nein. Aber in ihrer Gesamtheit? Absolut.

Der andere Grund ist ehrenwerter, wenn auch fehlerhaft. Es gibt sehr reale und sich weiter ausbreitende Vorurteile über Muslime im Westen. Die BBC hat vor kurzem gleichermaßen qualifizierte Reporter ausgesandt, um hunderte von Angestellten zu interviewen. Diejenigen mit muslimischen Namen bekamen mit einer 50% geringeren Wahrscheinlichkeit ein Interview. Kritiken von islamischen Texten werden manchmal benutzt, um US-amerikanische oder israelische Militärgrausamkeiten zu rechtfertigen. Einige Kritiker von Muslimen – wie Geert Wilders oder Martin Amis – stellen massenhafte Menschenrechtsverletzungen hier in Europa zur Diskussion. Also folgern einige Säkularisten: Ich habe viel am Judentum zu kritisieren, doch würde ich das nicht im Deutschland von 1933 tun. Warum den Islam jetzt kritisieren, wenn Muslime von Eiferern angegriffen werden?

Doch ich lebe im mehrheitlich muslimischen East End von London und das hier ist nicht Weimar Deutschland. Muslime sind sicher genug, um sich mit einigen harten Fragen auseinandersetzen zu können. Es ist herablassend, Muslime wie leicht erregbare Kinder zu behandeln, die mit der forschenden und veralbernden Behandlung nicht zurecht kommen, die wir auf Christentum, Judentum und Buddhismus anwenden. Es ist vollkommen stimmig, Muslime vor Fanatismus zu beschützen und gleichzeitig den Fanatismus und die Absurditäten innerhalb ihrer heiligen Texte herauszufordern.

Es gibt nun eine Zensurbewegung, die versucht, eine kritische Diskussion des Islam zum Schweigen zu bringen. Auf der einen Seite stehen Fanatiker, die drohen, Sie umzubringen, auf der anderen Kritiker, die Sie „islamophob“ nennen. Aber konsequenter Atheismus ist kein Rassismus. Im Gegenteil: Er behandelt alle Menschen wie reife Erwachsene, die mit rationalen Fragen zurechtkommen. Wenn wir Bücher aus Furcht vor Fundamentalismus einstampfen, dann enthaupten wir die wertvollste Freiheit, die wir besitzen.

*Leider hat Deutschland noch nichts davon mitbekommen. (Anm. des Übers.)

 

Übersetzung: Andreas Müller

Quelle: Hari, Johann: We need to stop being such cowards about Islam. Independent. 14. August 2008.

 

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