Österreich: Der Aufstand der Zwerge

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Standort des Or Chadasch Tempel in Wien

WIEN. (hpd) Liberale Juden und liberale Muslime gehen gegen österreichische Religionsgesetze vor. Eine reformjüdische Gemeinde will selbstständig werden, die liberalen Muslime wollen, dass die zentrale muslimische Vertretung für illegal erklärt wird. Sie wollen Religionsfreiheit in Österreich.

Die reformjüdische Gemeinde Or Chadasch und das Islamische Zentrum Österreich, weitgehend identisch mit der Iniative liberaler Muslime, sind in der Wahl der Mittel nicht zurückhaltend. Beide wollen die Gesetze aushebeln, die sie daran hindern, sich selbst zu vertreten. Die österreichischen Religionsgesetze lassen ihnen auch kaum eine Wahl, als das Islamgesetz und das Israelitengesetz anzugreifen.

Or Chadasch versucht es noch freundschaftlich. Die Gemeinde hat beim Kultusamt, das im Unterrichtsministerium angesiedelt ist, einen Antrag gestellt, eine eigene Gemeinde samt rechtlicher Gemeindevertretung zu gründen. Das geht nach dem gültigen Israelitengesetz bestenfalls eingeschränkt. Das sieht vor, dass die Israelitische Kultusgemeinde (IKG), alle jüdischen Gemeinden nach außen vertritt, egal, ob sie orthodox, chassidisch oder liberal sind. Aus Sicht von Or Chadasch-Präsident Theodor Much eine Aufgabe, die die IKG nicht erfolgreich wahrgenommen hat. Sie erkennt manche Or Chadasch-Mitglieder nicht als Juden an.

An sich ein innerreligiöser Streit. Allein, in Österreich ist das Religionsbekenntnis auf fast allen staatlichen Dokumenten anzugeben, vom Meldezettel (wo die Nicht-Angabe nicht geahndet wird) über das Schulzeugnis bis zur Sterbeurkunde. Und Kinder, die in anerkannte Religionsgemeinschaften eingetragen wurden, sind verpflichtet, den konfessionellen Religionsunterricht zu besuchen. Wer den erteilen darf, bestimmt von Gesetz wegen die IKG. In einer traditionell dezentralen Religion wie dem Judentum führt diese gesetzlich verordnete Hierarchie zwangsläufig zu Konflikten. Konflikte, in die die Republik Österreich hineingezogen wird. Sie hat die IKG geschaffen und zwingt per Gesetz alle jüdischen Gemeinden, dort Mitglied zu sein. Ob die wollen oder nicht. Religionsfreiheit sieht anders aus.

Streit auch im islamischen Bereich

Noch unübersichtlicher ist die Lage beim Islam. Auch für den gibt es ein eigenes Anerkennungsgesetz. Das so genannte Islam-Gesetz wird heuer 100 Jahre alt und seit drei Jahrzehnten ist die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) sozusagen zuständig, es im innerislamischen Bereich zu vollziehen. Wie die IKG ist die IGGiÖ zentrale und einzige Vertretung des Islam nach außen und bestimmt unter anderem, wer konfessionellen Religionsunterricht erteilen darf und wer nicht. Auch islamische Schulen, deren Personal vom Staat bezahlt wird, müssen zumindest theoretisch von ihr genehmigt werden. Das gibt der IGGiÖ beträchtlichen Einfluss auf das muslimische Leben in Österreich. Nicht nur die Liberalen Muslime haben damit ein Problem. Auch Schiiten sind nicht glücklich, dass eine türkisch-sunnitisch dominierte Organisation über weite Bereiche ihrer Religionsausübung bestimmen darf. Die Aleviten haben sich vor kurzem abgespalten – auch das ließ sich nur mit einem Gerichtsbescheid durchsetzen.

Ähnliches plant das Islamische Zentrum Österreichs, das weitgehend identisch mit den Liberalen Muslimen ist. Es hat beim Verfassungsgerichtshof beantragt, das Islamgesetz aufzuheben – und sicherheitshalber eine ministerielle Verordnung, die seinerzeit die IGGiÖ zur alleinigen Vertretung der Muslime in Österreich erklärt hatte. Die Verordnung sei illegal gewesen, heißt es vom Islamischen Zentrum. Und das Islamgesetz sei nicht mehr zeitgemäß. Es anerkenne bloß den islamischen Ritus, der 1912 in Bosnien-Herzegowina praktiziert wurde. Womit implizit alle anderen Strömungen keine anerkannte Religionsgemeinschaft seien, schreiben die Liberalen Muslime.

Wo bleiben Selbstverwaltung und Selbstbestimmung?

Pikanterweise will das Islamgesetz ausdrücklich die innerreligiöse Autonomie bewahren: „§ 1: Die äußeren Rechtsverhältnisse der Anhänger des Islam sind auf Grundlage der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung, jedoch unter Wahrung der Staatsaufsicht, im Verordnungsweg zu regeln, sobald die Errichtung und der Bestand wenigstens einer Kultusgemeinde gesichert ist. Hierbei ist insbesondere auf den Zusammenhang der Kultusorganisation der im Inland lebenden Anhänger des Islams mit jenen Bosniens und der Hercegowina Bedacht zu nehmen.“ 100 Jahre später gibt es hunderte Kultusgemeinden verschiedenster Ausrichtung, die von Mitgliedern unterschiedlichster Herkunft besucht werden. Selbstverwaltet und selbstbestimmt sind sie in der Praxis nur zum Teil und vor dem Gesetz gar nicht. Das erledigt die IGGiÖ für sie.

Ein großer Teil der religiösen Muslime hat sich angesichts dieser Situation in die innere Emigration verabschiedet. Knapp zehn Prozent der Muslime bei der IGGiÖ registriert, ein knappes Drittel der Registrierten war bei den Wahlen im Vorjahr wahlberechtigt. Selbst davon haben nicht alle einen der Stimmzettel mit der Einheitsliste abgegeben. Die staatlich organisierte Selbstverwaltung wird offenbar nicht angenommen. Und wenn sich eine Gemeinde über ihr eigenes Schicksal bestimmen will, muss sie das vor Gericht erkämpfen. Auch hier kann von Religionsfreiheit nicht die Rede sein. Die gilt in Österreich offenbar nur für die Vertreter, die der Staat anerkannt hat. Alle anderen müssen sich unterordnen oder abspalten. Das kommt heraus, wenn Religionsfreiheit bürokratisch definiert wird. Es wird zum Menschenvertreterrecht, das Menschenrecht ist bestenfalls eingeschränkt.

Das Mehrklassen-System

Dass mit den Religionsgesetzen umfassende Privilegien einhergehen, verschärfte die Lage. Zusätzlich zu den Problemen, die die erzwungene Religionsorganisation beschert, kommt ein Mehrklassensystem der Religionen. Nach den staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften kommen die religiösen Bekenntnisgemeinschaften. Nach ihnen die religiösen Vereine. Welche Rechte wer hat, richtet sich nach dem Status, die die jeweilige Religion in dieser Hierarchie einnimmt. Und noch mal eine Stufe darunter stehen die Konfessionsfreien. Die dürfen bestenfalls gnadenhalber mitreden, wenn es um ihre Kinder geht. Ein fein ziseliertes, fragiles Konstrukt korporatistischer Pseudo-Logik, dessen Absurditäten sich offenbar nicht einmal mehr die Mitglieder jener Vereine antun wollen, die die meisten Privilegien genießen. Vielleicht schaffen es ausgerechnet die anerkannten Religionsgemeinschaften, die österreichische Religionsgesetzgebung in ihrer Absurdität aufzuzeigen – und sie auszuhebeln. Dann könnte man von Religionsfreiheit in Österreich sprechen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte.

Christoph Baumgarten