Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften?
Sowohl der Zentralrat der Juden als auch der der Muslime bezeichnen das Urteil als „Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“. Gemeint ist wohl Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 (3) WRV: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Wie schon bei der Religionsfreiheit hat dies aber im Rahmen der für alle geltenden Gesetze zu erfolgen, deshalb kann das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften keinen Verstoß gegen das Strafrecht rechtfertigen. Im Gegensatz z.B. zu Kopftuchverboten ist das Verbot der Körperverletzung auch kein Gesetz, das speziell auf die Einschränkung bestimmter religiöser Praktiken abzielt.
Ohnehin ist nicht unmittelbar einleuchtend, wie ein Selbstbestimmungsrecht Eingriffe an anderen – also Fremdbestimmung – rechtfertigen soll.
Einschränkung der Religionsausübung
Nachvollziehbarerweise empfinden Juden und Muslime das Urteil als Einschränkung der Religionsfreiheit – genauer müsste man aber wohl von einer Einschränkung der Religionsausübung sprechen, denn die Religionsfreiheit erstreckt sich nur auf gesetzlich zulässige Handlungen. Das Urteil richtet sich aber nicht gegen die Religionsausübung als solche, auch nicht gegen die Beschneidung an sich, sondern hält lediglich die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder für unverhältnismäßig. Zwar wird die Religionsausübung eingeschränkt, dies geschieht aber, um einem höherrangigen Recht Geltung zu verschaffen, nämlich dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Man muss dies nicht mögen, es ist aber nicht zu beanstanden.
Und wer das Strafrecht nicht als „triftigen Grund“ für eine Verschiebung der Beschneidung anerkennen will, der kann von einem Rechtsstaat kaum Verständnis oder gar Entgegenkommen erwarten.
Deutschland als Ausnahme?
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Dr. Dieter Graumann, erklärte: Wenn sich die Rechtsprechung des Landgerichts Köln durchsetzen würde, „dann wäre Deutschland das einzige Land der Welt, in dem Beschneidung verboten wäre“. Nun, es mag sein, dass – wie bisher in Deutschland – die Beschneidung von Kindern bisher nicht geahndet wird. Die meisten Länder dürften allerdings Gesetze gegen Körperverletzung haben und wohl kaum Ausnahmeregelungen für die religiöse Beschneidung. (In Schweden sind medizinisch nicht notwendige Beschneidungen bei Jungen, die älter als zwei Monate sind, generell verboten.) Vielmehr wird es – jedenfalls in Europa – wohl so sein wie in Deutschland vor dem Kölner Urteil: Die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder dürfte den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllen, diese Erkenntnis hat sich lediglich noch nicht durchgesetzt.
Die UN-Kinderrechtskonvention gilt (fast) überall
Denn bis auf Somalia und die USA haben alle Länder die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, und die gibt im Hinblick auf die Beschneidung genau den gleichen Rahmen vor wie das Grundgesetz und das Bürgerliche Gesetzbuch: Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ist das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen (Art. 3). Das Elternrecht wird respektiert (Art. 5), allerdings ist auch hier „das Wohl des Kindes“ das Grundanliegen (Art. 18). Die Religionsfreiheit des Kindes ist zu achten und darf zugunsten der Gesundheit und der Grundrechte anderer eingeschränkt werden (Art. 14). Die Unterzeichnerstaaten haben das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung, Misshandlung oder schlechter Behandlung zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern befindet (Art. 19). Überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, sind abzuschaffen. (Art. 24).
Damit ergeben sich für die Abwägung des Kindesrechts gegenüber dem Elternrecht die gleichen Rahmenbedingungen wie in Deutschland, besonders in den (überwiegend europäischen) Staaten, die außerdem noch das Recht auf gewaltfreie Erziehung kennen. Damit dürfte die Rechtslage in Deutschland auch nach dem Urteil im Prinzip nicht anders sein als zumindest im europäischen Ausland, der Unterschied liegt lediglich darin, dass die Beschneidung von Kindern in Deutschland nun als Körperverletzung erkannt wurde, während die Beschneidung zur Zeit in anderen Ländern noch geduldet wird, vermutlich aufgrund mangelnden Problembewusstseins.
Die Entwicklung im Ausland
Ein Zustand, der nach dem aufsehenerregenden Urteil des Kölner Landgerichts kaum so bleiben wird. Die britische Ärztevereinigung British Medical Association (BMA) bezeichnete schon 1996 medizinisch nicht gebotene Beschneidungen an Neugeborenen als „unangebracht und unethisch“. Mittlerweile vertritt die BMA zwar keine offizielle Position mehr dazu, mit dem Hinweis, dass unter den Mitgliedern ein „Spektrum von Ansichten“ existiere. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Ärzte auch Beschneidungen durchführen und daran verdienen. Dennoch erklärte die Königlich-Niederländische Ärztevereinigung (KNMG) 2010: „Der offizielle Standpunkt der KNMG und anderer medizinischer/wissenschaftlicher Organisationen ist, dass die medizinisch nicht notwendige Beschneidung männlicher Minderjähriger eine Verletzung der Kinderrechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit darstellt. Entgegen verbreiteter Vorstellungen kann die Beschneidung zu Komplikationen führen – Blutungen, Infektionen, Harnröhrenverengung und Panikattacken sind besonders häufig. Die KNMG drängt daher auf eine deutliche Politik der Abschreckung. Die KNMG ruft Ärzte dazu auf, Eltern, die eine Durchführung erwägen, aktiv und mit Nachdruck über das Nichtvorhandensein medizinischer Vorteile und die Gefahr von Komplikationen zu informieren.“
Obwohl bisher ohne strafrechtliche Konsequenzen, wird die Auffassung der deutschen Juristen also durchaus auch von ausländischen Experten geteilt.
Mehr illegale Beschneidungen?
Der am meisten bedenkenswerte Einwand ist die von vielen Kritikern des Urteils vorgebrachte Befürchtung, dass nun auf illegale, weniger professionelle Beschneider zurückgegriffen wird, wodurch das Wohl der Kinder erst recht gefährdet würde. Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen, er bestätigt allerdings die Kölner Richter in ihrem Urteil und entlarvt gleichzeitig die ganze Diskussion um die angeblichen Vorteile der Beschneidung als vorgeschoben: Denn offenbar ist selbst den Verteidigern der Beschneidung klar, dass es bei der religiösen Beschneidung nicht um das Wohl des Kinde geht. Dann würden die Eltern nämlich lieber die Beschneidung verschieben, als ihr Kind von einem Pfuscher beschneiden zu lassen. Es mag ja sein, dass es Eltern gibt, denen das Strafrecht egal ist und die für einen religiösen Brauch auch das Wohl ihres Kindes aufs Spiel setzen. Dies sind nun aber gerade nicht die Leute, wegen denen man Ausnahmen in das Strafrecht schreiben sollte – dies sind die Leute, vor denen Kinder geschützt werden müssen.
Es ist eine Sache, sein Kind beschneiden zu lassen, solange dies nicht strafrechtlich geahndet wird – solange darf man davon ausgehen, dass dem Kind kein unverhältnismäßiger Schaden entsteht. Etwas Anderes ist es, sein Kind beschneiden zu lassen, nachdem Mediziner und Juristen nach sorgfältiger Abwägung der Rechte des Kindes und der Eltern zu der Erkenntnis gelangt sind, dass die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder ohne medizinische Notwendigkeit unverhältnismäßig und daher strafbar ist. (Dass die Beschneidung in anderen Ländern geduldet wird, dürfte ja weniger daran liegen, dass man dort bei der Abwägung zu einem anderem Ergebnis gekommen ist, als daran, dass diese Frage dort juristisch noch gar nicht erörtert wurde. Anderenfalls wäre sicher bereits auf entsprechende Urteile in anderen Ländern verwiesen worden.) Wer seinen Sohn trotz Strafbarkeit und erhöhten gesundheitlichen Risikos beschneiden lässt, kann und muss wohl als religiöser Fundamentalist bezeichnet werden.
Wie repräsentativ sind muslimische und jüdische Interessenvertretungen?
Aber wie viele Menschen sind das? Sind die Erklärungen des Zentralrats der Juden und muslimischer Organisationen tatsächlich repräsentativ für den Großteil der Juden und Muslime in Deutschland? Wenn man die Verhältnisse bei den christlichen Kirchen (insbesondere der katholischen) als Anhaltspunkt nimmt, wohl kaum. Vielmehr ist davon auszugehen, dass religiöse Organisationen grade das „strenggläubige“ Spektrum der Gläubigen repräsentieren und nicht die „Mitte“. Jedenfalls berichtete der WDR (Diesseits von Eden vom 1.7.2012,6:49), Rabbinern zufolge sei in Deutschland höchstens jeder fünfte Jude beschnitten. Und es ist ja auch nicht so, dass die Gründe für ein Verbot der religiösen Säuglings- und Kinderbeschneidung nicht nachvollziehbar oder einsichtig wären.