OBERWESEL/BERLIN. (hpd/gbs) Der Deutsche Bundestag hat mit breiter Mehrheit dem fraktionsübergreifenden Antrag zur "Rechtlichen Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen" zugestimmt. "Ein Armutszeugnis für den säkularen Rechtsstaat", meint gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon in seinem Kommentar.
Es war leider nicht anders zu erwarten: Die Bundestagsabgeordneten haben mehrheitlich einem von CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entschließungsantrag zugestimmt, mit dem die Bundesregierung beauftragt wird, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die die religiös motivierte Vorhautbeschneidung minderjähriger Jungen in Deutschland erlaubt. Die dringenden Appelle deutscher und internationaler Kinder- und Jugendärzte, die in Bezug auf die rituelle Vorhautbeschneidung von einem „erheblichen Trauma“ sprechen (siehe u.a. den Bericht der „Frankfurter Rundschau“ und die Pressemitteilung des Verbands der deutschen Kinder- und Jugendärzte) verhallten ebenso ungehört im Raum wie die glasklaren Argumentationen zahlreicher Juristen, die die rituelle Vorhautbeschneidung als illegitime Körperverletzung und Verstoß gegen die Selbstbestimmungsrechte der betroffenen Jungen auswiesen (siehe hierzu u.a. das Urteil des Kölner Landgerichts, das die Debatte auslöste, den Grundsatzartikel zur fraglichen Rechtmäßigkeit der Knabenbeschneidung von Prof. Dr. Holm Putzke sowie den Kurzkommentar von Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf).
Vor allem das Eiltempo, in dem die parlamentarische Entscheidungsfindung vonstatten ging – die sich im Urlaub befindlichen Parlamentarier hatten keine Zeit, sich mit der Thematik auch nur halbwegs angemessen auseinanderzusetzen -, belegt, dass es in dieser Frage zu keinem Zeitpunkt darum ging, durch eine gründliche Abwägung von Argumenten zu einer sachgerechten Lösung zu kommen. Worum es tatsächlich ging, hat Jacques Tilly in seiner Karikatur zum heutigen Bundestagsbeschluss wunderbar zum Ausdruck gebracht (sie kann in Druckauflösung hier heruntergeladen und bei Angabe der Quelle "Jacques Tilly/www.giordano-bruno-stiftung.de" frei verwendet werden): Die heutige "Vorhautresolution" des Deutschen Bundestags ist ein demokratieunwürdiger Kniefall vor konservativen Religionslobbyisten und ein Armutszeugnis für den säkularen Rechtsstaat, der sich offenkundig scheut, seine Rechtsnormen gegen die Propagandisten archaischer Riten durchzusetzen.
Die deutschen Parlamentarier hätten heute die Chance gehabt, die Rechte der Kinder zu stärken. Sie hätten die Artikel 19,1 und 24,3 der UN-Kinderrechtskonvention ins Feld führen können, die Kinder vor elterlicher Gewalt und brutalen rituellen Bräuchen schützen sollen. Sie hätten klarstellen können, dass säkulare Rechtsnormen für alle gelten müssen – auch für Religionsgemeinschaften. Sie hätten nicht zuletzt auch die Gelegenheit gehabt, die Forderungen progressiver Juden und Muslime zu unterstützen, die die archaischen Riten ihrer Vorväter längst überwunden haben und deren ethische Rückständigkeit in aller gebotenen Deutlichkeit kritisieren (siehe u.a. die Website der "Jews against Circumcision").
Leider hat der Deutsche Bundestag diese einmalige Chance verspielt. Er hat dafür votiert, Kinderrechte zugunsten archaischer Riten zu beschneiden, hat die modernen Werte des säkularen Rechtsstaats überholten religiösen Bräuchen untergeordnet, hat die so wichtigen Initiativen liberaler Juden und Muslime geschwächt und sich zum Büttel all derer gemacht, die ihre Glaubensdogmen partout nicht überdenken wollen, selbst wenn Kinder die Leidtragenden sind.
Noch ist nichts entschieden!
Doch noch ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit nicht gesprochen. Denn der Erschließungsantrag des Deutschen Bundestags hat im Grunde nur symbolischen Charakter, entscheidend ist, wie nun das Bundesjustizministerium mit der Resolution des Deutschen Bundestags verfährt. Und dies ist beileibe keine leichte Aufgabe! Denn wie auch soll es dem Ministerium gelingen, „unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist“?
Bei genauerer Betrachtung ist diese Forderung der Bundestagsresolution ein Widerspruch in sich. Denn nachweislich dient die rituelle Vorhautbeschneidung eben nicht dem Kindeswohl, sie garantiert eben nicht die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Und sie ist notwendigerweise mit Schmerzen verbunden, die zum einen gravierend (wer die Vorhautbeschneidung mit einer Impfung oder mit dem Stechen eines Ohrrings vergleicht, hat keine Ahnung oder lügt!) und zum anderen aus der Perspektive der säkularen Rechtsordnung bei Fehlen einer medizinischen Indikation völlig unnötig sind.
Zur Religionsfreiheit der Eltern wiederum ist zu sagen, dass sie durch ein Verbot der Vorhautbeschneidung überhaupt nicht tangiert würde, erstreckt sich deren Religionsfreiheit doch bloß auf sie selber, nicht aber auf ihre Kinder! Und bei der Abwägung des Erziehungsrechts der Eltern gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Kinder hat die von Deutschland unterzeichnete UN-Kinderrechtskonvention nun einmal klare Prioritäten gesetzt: Sie schützt die Rechte der Schwächeren! Wer meint, dass Kinder unter der totalen Verfügungsgewalt ihrer Erzeuger oder Betreuer stehen, hat nicht einmal im Ansatz begriffen, was Kinderrechte bedeuten. Es sollte klar sein: Die körperliche Unversehrtheit des Kindes ist ein Rechtsgut, das deutlich über der Erziehungsgewalt (sic!) der Eltern steht.
Halten wir fest: Zwar hat der Deutsche Bundestag mit seinem heutigen Votum hinlänglich gezeigt, wo er sich selbst in Sachen „Kinderrechte“ verortet, doch noch ist nichts entschieden. Dass die Bundestagsfraktion der Grünen im letzten Moment davon absah, den Erschließungsantrag zur „Rechtlichen Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen“ mit den anderen Fraktionen in den Bundestag einzubringen, mag als kleiner Hoffnungsschimmer gelten, dass die öffentliche Debatte etwas bewirken kann. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass Justizministerin Leutheuser-Schnarrenberger, die vor der schwierigen Aufgabe steht, eine gesetzliche Regelung für die in sich widersprüchliche Forderung des Parlaments zu finden, gegenüber bürgerrechtlich-humanistischen Forderungen aufgeschlossener ist als die meisten anderen Vertreter der politischen Klasse. Ihr politischer Handlungsspielraum ist zweifellos begrenzt, aber wenn sich die Verteidiger der Kinderrechte in den nächsten Wochen deutlicher artikulieren würden, könnte sie sich vielleicht davon überzeugen lassen, dass es für einen modernen Rechtsstaat zwingend erforderlich ist, jene Position zu vertreten, die im Bundestag heute sträflichst unterging, nämlich: dass Religionsfreiheit niemals bedeuten kann, Kindern ungestraft Schmerzen zufügen zu dürfen.