Besinnung auf Menschenrechte?

BERLIN. (hpd) In die grüne Debatte um die Legalisierung von religiös motivierten Knabenbeschneidungen ist seit einiger Zeit Bewegung gekommen. Nachdem sich zunächst führende Parteimitglieder überschwänglich für die Beibehaltung der bisherigen Beschneidungspraktiken ausgesprochen hatten, hat sich nun gezeigt, dass diese Äußerungen Schnellschüsse waren, die innerhalb der Grünen keineswegs gebilligt werden.

Dies zeigt sich deutlich an den seit Wochen vorliegenden Anträgen für die grüne Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) - dem grünen Parteitag - Mitte November in Hannover, die sich gegen eine Legalisierung des archaischen Beschneidungsbrauches aussprechen (der hpd berichtete).

Dringlichkeitsantrag für Parteitag will Knabenbeschneidungen untersagen

Jetzt ist ein Dringlichkeitsantrag von Antragstellern aus verschiedenen Kreisverbänden der Grünen vorgelegt worden. Damit wird beantragt, den bereits vorhandenen § 1631 BGB, der die Personensorge durch die Eltern regelt, in seinem zweiten Absatz zu ergänzen und den dortigen Regelungen des Kinderrechts auf gewaltfreie Erziehung, des Verbots körperlicher Bestrafungen, seelischer Verletzungen und anderer entwürdigender Maßnahmen, einen weiteren Satz hinzuzufügen, der lauten soll: „Körperliche Eingriffe ohne medizinische Indikation sind unzulässig.“ Damit würden diejenigen Regelungen im BGB, die grundlegend das Rechtsverhältnis zwischen dem Kind und seinen Eltern gestalten, sinnvoll ergänzt werden. Die Ergänzung bezieht sich auf eine elterliche Entscheidung über einen Eingriff in den Körper des Kindes, der für den Betroffenen lebenslange Bedeutung hat und irreversibel ist, und untersagt eine solche Entscheidung. Es ist bereits in der Vergangenheit - im § 1631c BGB - den Eltern absolut verboten worden, einen irreversiblen Eingriff in den Körper des Kindes zu veranlassen – sie dürfen das Kind nicht sterilisieren lassen. Auch das Kind selbst darf während der Minderjährigkeit einem solchen Eingriff nicht zustimmen. Der Vorschlag der Grünen steht somit in einer guten Tradition.

Diese Grünen kritisieren den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzesentwurf und werfen den Befürwortern der Knabenbeschneidung vor, die positive Entwicklung der Rechtsgüter des Kindes umzukehren und den Eltern wieder - wie in der Vergangenheit - das Recht einzuräumen, willkürlich über den Körper des Kindes zu verfügen. In der Tat ist dies ein zentraler Gesichtspunkt - in den letzten Jahrzehnten waren tradierte Elternbefugnisse, das Kind ausschließlich nach eigenem Gusto zu beeinflussen und prägen zu dürfen, erheblich zurückgedrängt worden. Dies war ein jahrelanger Prozess, an dem die Grünen wesentlichen Anteil hatten, und der jetzt von den Befürwortern überkommener Rituale gestoppt werden soll. Die Beschneidungsbefürworter haben – das zeigen die Analysen sämtlicher ihrer Papiere - überhaupt keine verfassungsrechtlichen Argumente für ihre Position, es sei denn, sie negieren die den Kindern zustehenden Menschenrechte und unterstellen Kinder pauschal der Einwirkungsbefugnis der Eltern, d.h. sie setzen das Elternrecht absolut.

Dringlichkeitsantrag: Bekenntnis zum Menschen und nicht zum Ritual

Der jetzt vorgelegte Dringlichkeitsantrag für die grüne BDK ist von einem eindeutigen Bekenntnis zum Vorrang des lebendigen Menschen und seiner Bedürfnisse vor dem nur Rituellen sowie von der modernen emphatischen Auffassung getragen, dass auch Kindern Menschenrechte zustehen, die nicht durch elterliche Entscheidungen beliebiger Art bestritten werden dürfen.

Grüne ChristInnen – Bekenntnis zum Ritual und nicht zum Menschen

Dem gegenüber steht allerdings ein Vorstoß religiöser Kreise innerhalb der Grünen, die das Thema durch Vertagung in eine Kommission auf der BDK undiskutiert unter den Tisch kehren wollen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft ChristInnen verlangt in Ergänzungsanträgen zu jedem der vorgelegten Beschneidungsanträge die aktuelle Nichtbefassung im November 2012 und will eine Entscheidung auf irgendwann im Jahr 2013, somit lange nach der zu erwartenden Regelung durch den Deutschen Bundestag noch in diesem Jahr verschieben. Offenbar haben die ChristInnen mittlerweile festgestellt, dass die Voten der grünen Basis doch wohl anders ausfallen werden als nach den ersten Äußerungen führender Grüner nach dem Urteil des Landgerichts Köln zu vermuten war, die sich umstandslos für eine Weiterführung der bisherigen Beschneidungspraxis ausgesprochen hatten und die langjährigen grünen Positionen zu Kindern und Kinderrechte völlig unbeachtet ließen. Um ihrer Position der Nichtäußerung der Grünen in dieser gesellschaftlich umstrittenen Frage einen Anschein von Begründung zu geben, erfinden die religiösen Antragsteller eine angebliche Auswirkung eines Beschneidungsverbots „unmittelbar auf die individuelle Religionsfreiheit“, weshalb nach ihrer Auffassung weitere Erörterungen des „Religionsverfassungsrechts“ im allgemeinen erforderlich seien. Man ist verblüfft - aber tatsächlich tragen sie nicht ein einziges Argument in der Sache vor.

Bemerkenswert ist, dass ihnen jetzt plötzlich - kurz vor der Abstimmung im Deutschen Bundestag -, eine solche Erkenntnis erwachsen sein soll; da drängt sich doch die Frage auf, wo die ChristInnen im letzten halben Jahr gewesen sind, hätten sie sich doch monatelang mit Bemerkungen zum Religionsverfassungsrecht in die laufende Debatte einbringen können. Nein, es ist ein offensichtliches Störmanöver, was hier geplant ist. Von einer Auswirkung der Beschneidungen „unmittelbar auf die individuelle Religionsfreiheit“ redet mittlerweile niemand mehr, es wäre auch mehr als seltsam und menschenrechtswidrig, wenn die Religionsfreiheit der Eltern es ihnen erlauben sollte, vom Körper ihres Sohnes einen gesunden und funktionsfähigen Teil unwiederbringlich abtrennen zu lassen. Sollten die Antragsteller - wider Erwarten - jedoch die Religionsfreiheit des betroffenen Knaben meinen, nun, dann wäre es höchste Zeit, öffentlich Farbe zu bekennen und nicht für dieses Thema eine „Beerdigung erster Klasse“ vorzuschlagen. Aber um die Knaben geht es wohl kaum: es soll lediglich verhindert werden, dass sich die Grünen in der Tradition ihrer bisherigen an Menschenrechten orientierten Haltung positionieren.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft ChristInnen ist eine parteiinterne Gliederung, die - nach eigenen Angaben - Politik aus einer christlichen Gesinnung heraus machen will. Die Mitglieder dieser Arbeitsgemeinschaft geben sich in weiten Teilen tolerant und als Verfechter von Menschenwürde und Menschenrechten, die sie daraus herleiten, dass der Mensch Geschöpf Gottes sei, wie sie in einer Broschüre über Inhalte und Ziele der Arbeitsgemeinschaft schreiben. Aus der Ebenbildhaftigkeit folge die Forderung nach unbedingter Wahrung der Menschenwürde, die der menschlichen Disposition entzogen sein müsse. Die ChristInnen fordern gar, dass die „vorgefundene Wirklichkeit als geschichtlich geworden nicht einfach hingenommen werden“ darf, und sie erklären unbedingt: „Der Mensch kann keineswegs zur Verfügungsmasse eines gesellschaftlichen Prinzips werden.“ Würden sie allerdings ihre eigenen Ankündigungen ernst nehmen, würden sie sich für die Menschenrechte der Knaben einsetzen und deutlich erklären: „Der Knabe kann keineswegs zur Verfügungsmasse eines archaischen Prinzips werden.“ Dies jedoch zu erwarten, wäre wohl eine Überforderung der christlichen Gesinnung, bei der, wie das aktuelle Beispiel zeigt, es nicht so sehr um den Menschen, sondern mehr um Rituale, mehr um die rechte Gesinnung geht. Denn nur wenn einem der Mensch – in diesem Falle: der Knabe - nachrangig ist, kann man - obwohl ein eindeutiges Votum für den Deutschen Bundestag dringend notwendig ist - für eine „Vertagung“ plädieren. Die grünen ChristInnen stehen freilich mit ihrer ritualfixierten Haltung nicht allein, sämtliche Religionsgemeinschaften haben - soweit sie sich zu diesem Thema geäußert haben - zugunsten des Rituals plädiert, zugunsten der Tradition. Zu den Menschenrechten der Knaben haben sie allesamt nichts zu sagen (gehabt).

In ihrer Broschüre haben die ChristInnen der Grünen erfreut konstatiert, dass Religion „in den öffentlichen Raum zurückgekehrt“ sei, „mit der Folge, dass es einen allenthalben sichtbaren, zunehmenden Einfluss von Religion auf die zivilgesellschaftlichen Debatten gibt.“ Wenn die Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum jedoch solche Ergebnisse zeitigt, wie anlässlich der Knabenbeschneidungen deutlich wird, dass es zu einem Angriff auf unveräußerliche Menschenrechte von Kindern und einer Beschneidung dieser Menschenrechte, dass es zu einer Rückkehr zu überwundenen Elternrechten kommen soll, deren Grundlage die Ideologie ist, dass man sein Kind beliebig (orientiert nur am Elternwillen) prägen dürfe, dann, ja dann ist es höchste Zeit, dass die Religion aus dem öffentlichen Bereich wieder hinaus befördert wird.

Die grüne BDK, das zeigen die Debatten bei den Grünen, wird sich von den Ritualisten nicht daran hindern lassen, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Gerade in der jetzigen Situation muss ein deutliches Zeichen für Kinderrechte, für Menschenrechte von Knaben gesetzt werden. Wie in den letzten Tagen deutlich wurde, stehen die Verfechter einer Mädchenbeschneidung (und zwar in der mildesten Variante) auf muslimischer Seite schon bereit, im Anschluss an die Debatte über Knabenbeschneidungen ihre vermeintlichen religiösen Rechte einzufordern.

Walter Otte