Menschenrechte als Alibi

(hpd) Der in Teheran geborene Schriftsteller und Publizist Bahman Nirumand hat eine kenntnisreiche Analyse vorgelegt, wie man das von ihm gewohnt ist. Es geht um die Nahostpolitik des Westens und das mangelnde Engagement für Menschenrechte in Bezug auf die politische Situation im Nahen Osten. Und es geht auch um "den Islam".

Zeigt der Autor bereits zu Beginn seiner Ausführungen auf, dass die Menschenrechte des Westens eine der "wunderbarsten Errungenschaften (ist), die die Menschheit nach Jahrtausenden ihrer Geschichte hervorgebracht haben", so weist er zugleich darauf hin, dass dies aber günstigstenfalls nur im Inneren — in Europa und Nordamerika und dort zunächst auch nur eingeschränkt — galt, und dass die Bekenntnisse zu Demokratie und Menschenrechten die Europäer "nicht davon abhielten, die außerhalb der Grenzen ihrer Länder liegenden Regionen zu plündern, auszubeuten und sie als Kolonien unter ihre Herrschaft zu bringen." Darin, dass über Jahrhunderte westliche Staaten „den gesamten Globus“ unter ihre Kontrolle bringen konnten, sieht er "den eigentlichen Kern der wichtigsten Konflikte auf unserem Planeten."

Eine Betrachtung von jenseits des Eurozentrismus

Anhand der Verhältnisse der westlichen Staaten und ihrer Politik der letzten Jahrzehnte u.a. gegenüber Afghanistan, dem Iran, dem Irak, Palästina und Israel untermauert er seine Thesen mit beeindruckendem Faktenwissen. Er eröffnet dem Leser eine andere Perspektive auf die aktuellen Konfliktlagen – für ihn ist eben nicht die europäische, besser: die eurozentristische Perspektive maßgeblich und er bietet auch keine Märchen aus Tausend und einer Nacht, sondern Handfestes für Strategie und praktische Politik.

Nirumand, Verfolgter des Shah-Regimes und des Gottesstaates der Mullah, erhebt sich hoch über den Standpunkt eines lamentierenden Betroffenen und analysiert präzise und mit kühlem Verstand, ohne Hass und Ressentiment.

Hinsichtlich des Iran plädiert er, der vehemente Kritiker, für einen Dialog; er wirft den westlichen Staaten, spätestens seit dem Sturz von Ministerpräsident Mossadegh in den 1950er Jahres eine verfehlte Politik vor, die die Bedürfnisse der iranischen Gesellschaft immer wieder ignoriert und den Herrschenden über die Bevölkerung in die Hände gespielt hat. Warum, so fragt er, unterstützte im ersten Golfkrieg der Westen Saddam Hussein, obwohl dieser Krieg die Menschen im Iran — zu einer Zeit, in der die weitere politische Entwicklung noch in der Schwebe war - lediglich in die Hände der Islamisten trieb, warum gab es weder damals noch später - während der Präsidentschaft von Ali Chatameh — eine westliche Politik, die die iranische Zivilgesellschaft gegen die Mullahs stärkte und die die Reformer unterstützte? Und er fragt, warum wurde 2009, während der "grünen Revolte" vom Westen der "Atomkonflikt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (gerückt) und … somit von der Protestbewegung ab(gelenkt) …"?  Er schreibt vom heute noch anhaltenden Trauma der iranischen Gesellschaft wegen des Komplotts gegen Mossadegh und den Folgen dieses Traumas.

Eine Analyse der Doppelbödigkeit westlicher Politik

Nicht nur am Beispiel Irans zeigt er die Doppelbödigkeit westlicher Politik auf, sondern auch am Beispiel anderer Staaten der Region.

Er macht deutlich, dass der Umschwung der Meinung der Amerikaner bezüglich Afghanistan gegen die zuvor unterstützten Taliban weder etwas mit Menschenrechten noch mit Nine eleven, sondern mit dem Scheitern von Verhandlungen über eine von den Amerikanern gewünschte Pipeline durch Afghanistan zu tun hat, er zeigt an Beispielen, dass amerikanische/westliche Politik im Irak mit Geschäftemacherei und nichts mit der Einführung von Demokratie zu tun hatte. Gegen alle Propagandaverdrehungen hebt er hervor, dass erst und wesentlich durch die Zerschlagung der irakischen Armee (die Entlassung aller Militärangehörigen) durch den damaligen US-amerikanischen Prokonsul Paul Bremer der islamistische Terror gegen die irakische Bevölkerung mit unzähligen Toten im Irak ermöglicht wurde — Terror, den man andererseits in Sonntagsreden zu bekämpfen vorgibt, nachdem man erst die Bedingungen für ihn geschaffen hat.

Nirumand kritisiert auch am Beispiel des Konfliktes Palästina/Israel die Doppelbödigkeit westlicher Politik, die nicht einmal ernsthaft versucht, die ständig weiterbetriebene Siedlungspolitik von rechtsradikalen und religiös-fundamentalistischen Israelis, die von der israelischen Regierung unterstützt wird. Diejenigen Israelis, die an einem Ausgleich mit den Palästinensern nicht interessiert sind, können weitermachen, obwohl ein konsequenter Siedlungsstopp ein eindeutiges Signal für die tatsächliche Bereitschaft zu Friedensverhandlungen wäre. Um an dieser Stelle gleich eines deutlich zu machen, bevor gegenüber Nirumand der neuerdings zur Konturenlosigkeit verkommene Antisemitismus- vorwurf erhoben wird – er hält keineswegs die Palästinenser für stets palmschwingende Friedensaktivisten und kritisiert auch deren Positionen.

Das ist es, was die Analyse von Bahman Nirumand auszeichnet: in allen Punkten und zu sämtlichen von ihm beleuchteten  Konfliktlagen keine Einseitigkeit, sondern Betrachtung und Darstellung auch der Wechselwirkungen.

Interessante und lesenswerte Ausführungen zum Wahhabiten-Regime in Saudi-Arabien, den guten Geschäften mit diesem Staat und den nicht nur heimlichen Allianzen sowie zum Verhältnis des Westens zum „arabischen Frühling“ runden das Bild auf den Nahen Osten ab.

Die Europäer haben sich in der Region unglaubwürdig gemacht, weil sie anders reden als handeln. Nicht nur Abu Ghraib und Guantanomo sind da nur die Spitze eines bereits weit aus dem Wasser herausgetretenen Eisbergs.

Die "zivilisierte Welt" und ihre Verbrechen

Der Autor macht darauf aufmerksam - auch, aber nicht an nur die islamophoben Krakeeler gerichtet - dass es nicht "die Muslime", nicht die muslimischen Staaten waren, sondern dass es die sogenannte "zivilisierte Welt" war, die sechs Millionen Juden vergast und verbrannt hat, die hunderttausende Vietnamesen mit Napalm, ebenso viele Japaner mit Atombomben getötet und verstümmelt hat, die in Chile geputscht und gemordet, in Algerien Massenmorde durchgeführt, im Iran (nach dem Sturz der demokratischen Regierung Mossadegh) eine Diktatur gestützt und  in Südafrika ein Apartheidsregime am Leben erhalten hat, und so weiter. Es gibt noch viele Beispiele; auch hier verschweigt Nirumand keineswegs die Menschenrechtsverbrechen in der Nahostregion, wie diejenigen des Mullah-Regimes.

Forderungen für eine Politikänderung gegenüber Nahost

Nirumand plädiert für eine radikale Änderung der westlichen Politik gegenüber Nahost und Nordafrika und nennt drei Politikbereiche: keine bedingungslose Unterstützung autoritärer Regime, ein Überdenken und Ändern der Haltung bei der Lieferung von Waffen und technischen Geräten, die zur Unterdrückung der Bevölkerung geeignet sind, er fordert stattdessen die Förderung von Bildung und Ausbildung und die stärkere Verknüpfung der Wirtschaftsbeziehungen mit Forderungen nach Achtung der Menschenrechte.

Eine Neuorientierung der westlichen Politik erfordert jedoch die Bereitschaft und den politischen Willen, Menschenrechten auch in Nahost Geltung zu verschaffen. Sie erfordert aber auch neue Analysen und Strategien.

Bezüglich des Iran schlägt Nirumand Verhandlungen bei gleichzeitigem Verzicht auf die Eskalierung des Konfliktes vor und nennt auch Eckpunkte für Verhandlungen über die iranische Urananreicherung. Die (legitimen) Sicherheitsinteressen des Iran müssten berücksichtigt werden, das Regime solle keine Möglichkeit mehr haben, die Menschen im Iran durch eine Orientierung auf "tatsächliche oder konstruierte Feinde" für sich zu vereinnahmen. Die Frage eines Regimewechsels solle dem iranischen Volk überlassen bleiben und nicht mit dem Gerede von einem von außen militärisch herbeigeführten Regimewechsel Propaganda gemacht werden. 

Der kommende US-amerikanische Verteidigungsminister Chuck Hagel jedenfalls gilt als einer, der mit dem Iran an einen Tisch will, der verhandeln will, er hat sich wiederholt gegen Sanktionen gegen den Iran ausgesprochen. Das wäre im Sinne der Analyse von Bahman Nirumand. Nur: ein Chuck Hagel allein reicht nicht aus. Jüdische Vereinigungen machen bereits Stimmung gegen ihn, die Bezeichnung vom "Feind Israels" ist in die Welt gesetzt. Dies zeigt nur, wie schwer es werden wird, in der Nahostregion konstruktive Politik zu machen.

Berlusconi: "Überlegenheit der westlichen Zivilisation"

Solange aber vereinfachte Weltbilder Konjunktur haben, von "den Arabern" und "den Muslimen" gesprochen wird und "der Islam" der große Satan ist, der für alles Mögliche vor allem aber für alles Negative verantwortlich gemacht wird, solange wird ein umfassender  Politikwechsel, wie ihn Nirumand dringend anmahnt, wohl ausbleiben. Die vom Autor zitierte (rassistische) Äußerung von Silvio Berlusconi: "Wir müssen uns unserer Vorherrschaft und der Überlegenheit unserer westlichen Zivilisation bewusst sein" drückt eine weit verbreitete Haltung aus - Berlusconi ist überall und bei den Islamophoben allemal.

Nirumands Analyse ist - mittelbar - auch ein Plädoyer dafür, den Kampf gegen die hiesigen kleinen Berlusconis aufzunehmen, sie stören die Umorientierung genauso wie die islamistischen Terroristen, die autoritären Regime, die kriminellen Mullahs und die israelische Siedlungspolitik und wie vieles mehr.

Das Buch von Bahman Nirumand, ein "Standpunkt", wie es der Verleger, die edition körber-Stiftung bezeichnet, ist unbedingt lesenswert, um zu einer an den Tatsachen orientierten Bewertung nicht der westlichen Sonntagsreden, sondern der westlichen Taten in der internationalen Politik zu gelangen. Es erklärt auch manche aus europäischer Sicht zunächst unbegreifliche Vorgänge im Nahen Osten.

Walter Otte

Bahman Nirumand, Menschenrechte als Alibi, edition Körber-Stiftung, ISBN: 978-3-89684-145-2, 10,00 Euro.