ROM. (hpd) Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat aktuell eine historische Recherche vorgelegt, die einen harmlosen Titel hat, aber theologischen und kirchenpolitischen Sprengstoff enthält. Grundlage dafür sind Protokolle einer Gerichtsverhandlung von 1859 der Römischen Inquisition, die bis 1999 als vernichtet und verschollen galten – bis Wolf sie entdeckte.
Hubert Wolf studierte Theologie, erhielt die Priesterweihe und ist seit 1992 Professor für Kirchengeschichte, erst in Frankfurt, dann in Münster. Er gilt als Vatikankenner und ist als Historiker ein akribischer Arbeiter. Seit 2002 ist er Leiter des DFG-Langzeitprojekts "Römische Inquisition und Indexkongregation“.
Das klingt für einen Säkularen erst einmal recht langweilig, und wenn dieser Fachmann für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte ein recht dickes Buch vorlegt, das den Titel trägt: „Die Nonnen von Sant’Ambrogio“, dann lässt das auch nicht gerade Bemerkenswertes erwarten. Allerdings, wer den Buchumschlag sieht - er trägt die Abbildung aus “Die Verzückung der heiligen Theresa“, mit dem hingebungsvollen Gesicht zweier Nonnen, die in (vielleicht auch sexueller) lustvoller Empfindung die Augen schließen und den Mund geöffnet haben – und dann den Untertitel liest: „Eine wahre Geschichte“, nimmt zurecht an, dass es keine nett-beschauliche Geschichte über ein Nonnenkloster in Italien erwarten lässt.
Innerhalb seines Forschungsgebietes bekam Wolf bereits 1992, vor der offiziellen Öffnung der Archive (1998) durch Papst Johannes Paul II., Zugang zu den Akten der römischen Inquisition. Und dort stößt er 1999 eines Tages in der Stanza Storica im Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre auf die zwei Regalmeter lange Sammlung eines Prozess der Römischen Inquisition, die dort archivarisch falsch eingelagert worden waren, oder waren sie dort versteckt worden? Es sind die Akten, Protokolle und Aufzeichnungen im Zusammenhang eines Inquisitionsprozesses, der im Herbst 1859 in Rom begann und dessen Akten bis 1999 als verschollen oder vernichtet galten.
Im Zuge der detaillierten Darstellung der Protokolle webt der Historiker Wolf die damaligen Ereignisse in ein beziehungsreiches Geflecht der historischen Situation der Akteurinnen und Akteure, aber auch in den Kontrast zu unseren heutigen Auffassungen, die es auch einem gegenwärtigen Leser ermöglicht, einen Zugang zu dieser Zeit, den Geschehnissen und ihrer möglichen Bedeutung für die heutige katholische Kirche, zu bekommen, denn zu den Akteuren gehören nicht nur höchste Mitglieder der Kurie, die Kirchen- und Dogmengeschichte geschrieben haben, sondern auch Papst Pius IX. und die „Gottesmutter“ persönlich.
Erstgenannte Frau des Buches, die durch eine Anzeige bei der Inquisition den Prozess auslöst, ist Katharina von Hohenzollern-Sigmaringen. Sie gibt an, im Kloster habe man sie vergiftet wollen. Und nun fragt Wolf: „Handelte es sich um bloße Vergiftungsphantasien einer überspannten hochadeligen Dame oder gab es die Anschläge auf das Leben Katharinas wirklich? Und überhaupt: Wie kam eine Fürstin aus dem Hause Hohenzollern, eine enge Verwandte des späteren preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelm I., dazu, als Nonne in einen derart strengen Orden einzutreten?“
Bereits in der Beantwortung dieser selbst gestellten Fragen zeigt sich der fulminant gelehrte Stil des Buches. Wie sie versucht, im Leben einen Platz zu finden, schon frühe Pläne in ein Kloster einzutreten von ihrem „Seelenführer“ vorerst abgewendet werden und sie dann nach einer ersten siebenjährigen Liebesehe, eine zweite, nur fünf Jahre dauernde Vernunftehe einging. Beide Männer starben, der eine an Schwindsucht, der zweite an Typhus und sie erfüllte sich endlich ihren Wunsch, ins Kloster zu gehen. Erst im Elsass, dann, nach den Ratschlägen von hochrangigen Klerikern und Verwandten, in Rom.
Der erste Vorschlag für ein Kloster kam anscheinend von Papst Pius IX. selber, der die Herz-Jesu-Verehrung förderte und sie, so der Historiker Wolf, „zum Fanal seines Kreuzzuges gegen die Moderne“ machte. „Der Herz-Jesu-Kult wurde zum Zeichen des Rückzugs der Katholiken ins Innere, ins Ghetto, in die Gegengesellschaft des katholischen Milieus, und zum ‚Identifikationssymbol für die zeitgenössische Leidenserfahrung der Katholiken‘ als Verlierer in den Modernisierungsprozessen der Neuzeit. Während die moderne Naturwissenschaft das Gehirn zum wichtigsten Organ des Menschen erklärte, hielten die Katholiken am Herzen als ‚Zentralorgan des leiblichen und als Träger des sittlichen Lebens‘ fest.“
Schließlich fand sie Aufnahme im Klausurkloster Sant’Ambrogio della Massima, des ‚strengsten Ordens‘, dessen Kardinalprotektor gleichzeitig der Kardinalvikar der Römischen Kurie war, Constantino Patrizi. Die Probezeit erschien ihr musterhaft und Diskussionen unter den Nonnen, die ratlos waren, „ob die Zahnbürste ein gefährliches Werkzeug des Teufels war und ob Katharina dieses Ding weiter benutzen dürfe“, erschienen als „kulturelle Defizite“ nebensächlich. Schließlich wird sie Novizin und Angehörige des Klosters der regulierten Franziskanerinnen vom Dritten Orden.
Doch schon bald wird das vermeintliche „Paradiesgärtlein hinter Klostermauern“ zum Martyrium, dem die Fürstin schließlich mit Hilfe eines Verwandten und Vertrauten Pius IX. entkommen kann, auf dessen Rat hin sie auch bald „die dort bestehenden Missstände dem Heiligen Stuhl zur Anzeige“ bringt. Und nun beginnt Hubert Wolf das Kaleidoskop der Beteiligten und der Umstände detailliert zu beschreiben.
Eine Zusammenfassung der (im Buch) folgenden 330 Seiten der Schilderung des Prozessverlaufs lautet: „Nonnen verfallen in eigentümliche Zustände zwischen sexueller und mystischer Ekstase, Novizinnen werden missbraucht, Beichtväter segnen per Zungenkuss, Zweiflerinnen werden beseitigt – und dies alles über Jahrzehnte zur höheren Ehre Gottes und der Jungfrau Maria.“ Dabei geht es auch um Fragen der Praxis gleichgeschlechtlicher Liebe und deren theologische Bewertung und die Schuldzuweisung für alles in diesem Kloster – der Fälscherwerkstatt für die himmlischen Marienbriefe, dem seelsorgerischen sexuellen Beistand im Bett, dem ununterbrochenen Bordell, der Dramaturgie einer Vergiftung – eine Erklärung: „Es war mit Sicherheit der Teufel!“ Folge: Exorzismen waren auch offiziell an der Tagesordnung.
Nach 375 Seiten wendet sich die Darstellung dann der Frage zu: „Ein Stellvertreterkrieg?“ und auf den folgenden 72 Seiten entwickeln sich Themen, die direkt bis in die heutige Zeit hineinreichen.
Der zweite Beichtvater des Nonnenklosters, Joseph Kleutgen, der im Kloster als „Beichtvater Peters“ ein allen Regeln der katholischen Kirche widersprechendes Liebesverhältnis mit der jungen und hübschen Novizenmeisterin gelebt hatte und auch im Verdacht stand, an den Giftmischereien beteiligt gewesen zu sein, war Jesuit und ein „Spitzentheologe“ - als einer der engsten theologischen Berater von Papst Pius IX. Für ihn musste nun ein Urteil gefunden werden. Während die Novizenmeisterin Maria Luisa erst in die römische Irrenanstalt überstellt, schließlich sich selbst überlassen wurde, verarmt, verlieren sich ihre Spuren im Dunkeln der Geschichte.
„Privilegium fori“
Joseph Kleutgen dagegen blieb im Kirchenstaat unter dem Schutz der Kurie und wurde unter das „Privilegium fori“ gestellt, demzufolge Geistliche und Ordensmitglieder weder bei zivil- noch bei strafrechtlichen Vergehen vor ein weltliches Gericht gestellt werden dürfen.
Kleutgen, der als theologischer Berater des Papstes Pius IX. „die Texte und Gutachten schrieb, die er zur Durchsetzung seiner Politik und seines universalen Machtanspruches in Kirche und Kirchenstaat brauchte … gehörte zu einer Seilschaft, zu einem jesuitischen Netzwerk. Kleutgen und die Jesuiten stabilisierten seine hierarchische Herrschaft – hier war Rücksicht und Milde angesagt.“
Jesuit Kleutgen wurde schließlich wegen „formaler Häresie“ zu „fünf Jahren Haft in den Zellen der Inquisition“ verurteilt, was dann jedoch durch die Kardinäle und den Papst immer weiter abgemildert wurde, bis schließlich „zwei Jahre Zwangsaufenthalt in einem Haus des Jesuitenordens außerhalb Roms übrig blieben“, die er in einem „Kur- und Erholungsheim der Gesellschaft Jesu in Galloro, das … malerisch am Nemisee in den Albaner Bergen liegt“ verbrachte.
Letztlich, so der Historiker Hubert Wolf, „stand eine ganze kirchenpolitische und theologische Partei vor Gericht, deren Mitglieder allesamt zu einem jesuitischen Netzwerk gehörten, das auf eine strikte Zentralisierung und Uniformierung der katholischen Kirche hinarbeitete und seinen theologischen Überbau in der Neuscholastik fand. Die Ekklesiologie dieser Seilschaft zielte auf eine absolute Papstmonarchie und die Ausmerzung aller kollegialen, episkopalen und zentrifugalen Richtungen innerhalb des Katholizismus. Ihre Frömmigkeit setzt im Umfeld des neuen Mariendogmas von 1854 auf Gefühl, außerordentliche religiöse Phänomene und Erscheinungen, die sie dem ‚kalten‘ Rationalismus aufgeklärter Religionspraxis entgegenstellte.“