23 Jahre nach Giftgas-Anschlag in der Tokyoter U-Bahn

Sekten-Guru Shoko Asahara hingerichtet

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Der Dalai Lama und Shoko Asahara
Der Dalai Lama und Shoko Asahara

Am Abend des 27. Juni 1994 fielen in der japanischen Stadt Matsumoto, eine gute Autostunde südlich von Nagano, die Vögel vom Himmel, Hunde und Katzen verendeten auf der Straße. Menschen wanden sich in Krämpfen auf dem Boden, sieben davon starben, mehr als zweihundert erlitten bleibende körperliche Schäden. Als Ursache stellten Wissenschaftler eine freigesetzte Wolke des Nervengiftes Sarin fest, eines Kampfstoffes, der von den Nazis für den Einsatz im Zweiten Weltkrieg entwickelt worden war. Monatelang tappten die Ermittlungsbehörden im Dunkeln. Auf die Idee, bei der merkwürdigen Sekte AUM Shinrikyo nachzuforschen, die nahe der Stadt eine Dependance errichtet hatte, kam niemand.

Auch nicht, als zwei Wochen nach dem Horror von Matsumoto eine Giftwolke über Kamikuishiki am Fuße des Fuijyama zog, ins Freie gelangt ganz offenbar aus einem Komplex ehemaliger Fabrikgebäude am Rande des Ortes, der seit 1988 der Sekte als Hauptquartier diente. Auch in Kamikuishiki litten die Menschen unter Schwindelanfällen, Krämpfen und Atemnot. Polizei und Feuerwehr suchten tags darauf das Gelände außerhalb des streng bewachten Sektengrundstückes ab; gleichwohl selbst dort jede Menge leerer Chemiefässer und aufgerissene Chemikalienbeutel zu finden waren, wurde darauf verzichtet, AUM Shinrikyo selbst zu kontrollieren.

Man scheute die direkte Konfrontation mit der Sekte, die in Kamikuishiki mehr als eineinhalbtausend Mitglieder angesiedelt hatte. Obwohl längst wegen Drogenhandel, Verstoßes gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, Herstellung biochemischer Waffen und vor allem: wegen des spurlosen Verschwindens kritischer Journalisten hätte ermittelt werden müssen, geschah nichts.

Die Erklärung für die Untätigkeit der Behörden war ebenso simpel wie erschreckend: Es handelte sich bei AUM Shinrikyo um eine staatlich registrierte und steuerlich begünstigte Religionsgemeinschaft, die ebendeshalb weitgehende Immunität gegen Strafverfolgung genoss.

Anfang 1995 konnte die Sekte die Aufdeckung ihrer Machenschaften gerade noch einmal verhindern. Am Neujahrstag erschien auf der Titelseite von Japans größter Tageszeitung Yomiuri Shimbun ein Artikel, in dem AUM Shinrikyo erstmals direkt mit den Giftgasvorfällen in Verbindung gebracht wurde. In Windeseile wurden daraufhin die Produktionsstätten in Kamikuishiki zu einem Tempel umgebaut: die chemische Laborausstattung wurde demontiert und in andere Sektenstützpunkte verbracht, die gelagerten Grundstoffe zur Herstellung von Sarin wurden in einen Brunnen entsorgt. Alles, was auf chemische Produktion hätte hindeuten können, wurde entfernt, dafür errichtete man im Hauptgebäude eine gigantische Buddhastatue, die man nun der Öffentlichkeit präsentierte. Zudem wurde behauptet, etwaig zu findende Überreste von Sarin seien auf Giftgasangriffe der USA zurückzuzführen, die von Militärjets aus das Sektengelände damit eingesprüht hätten. Trotz aller Durchsichtigkeit des AUM-Manövers fassten die Ermittlungsbehörden nicht nach. Halbherzig beraumte man für den 21. März eine Durchsuchung des Sektenhauptquartiers an.

Todesfalle U-Bahn

Am Tag zuvor, am Montag den 20. März 1995, kurz nach acht Uhr morgens, verwandelte sich die Tokyoter U-Bahn in eine Todesfalle. In fünf U-Bahnzügen entwich aus Plastikbeuteln mörderisches Giftgas. Als die Züge stoppten, bot sich ein apokalyptisches Bild: In heilloser Panik stürzten die Menschen aus den Waggons, erbrachen sich, spuckten Blut; mit glasigen Augen stolperten sie wie Zombies auf die Ausgänge zu, viele sackten lautlos in sich zusammen, andere wälzten sich von Krämpfen geschüttelt auf dem Boden, aus ihren Mündern quoll blutiger Schaum. Oben auf der Straße war die Hölle los. Tausende drängten völlig orientierungslos aus den U-Bahnschächten ins Freie, Bürgersteige und Fahrbahnen waren voller Verletzter, die einfach dort lagen, wo sie zusammengebrochen waren. Es war ein gespenstisches Chaos. Fast kein menschlicher Laut war zu hören, da das Nervengas die Lungen der Verseuchten angegriffen hatte und ihre Stimmen versagten.

Bald darauf hörte man die Sirenen der Rettungswagen, Hubschrauber dröhnten. Auf den U-Bahnhöfen im gesamten Stadtzentrum spielten sich Szenen ab wie auf einem Kriegsschauplatz, weit über fünftausend teils schwerst Verletzte waren zu versorgen. Sie wurden relativ rasch auf über dreißig Krankenhäuser im ganzen Stadtgebiet verteilt, da man aber die genaue Ursache der Vergiftung noch nicht kannte − zunächst war man von einer Gasexplosion mit Kohlenmonoxydaustritt ausgegangen −, konnte man nicht viel tun. Der Zustand vieler PatientInnen verschlechterte sich rapide, es gab bereits mehrere Tote. Erst zweieinhalb Stunden später stellte ein Militärarzt versuchsweise eine erste Diagnose: Sarin. Sofort begannen Ärzte überall in der Stadt das Gegenmittel PAM zu verabreichen. Mehrere Patienten lagen in tiefem Koma, die Zahl der Toten war auf zwölf gestiegen. Eine Frau wurde mit qualvollen Schmerzen ins Krankenhaus gebracht: das Nervengas hatte ihre Kontaktlinsen an ihre Augäpfel angeschweißt. Beide Augen mußten operativ entfernt werden.

Endlich traten die Behörden in Aktion. Innerhalb einer Woche wurden fünfundzwanzig AUM-Zentren in ganz Japan durchsucht. Man fand bizarre Laboratorien, in denen Hunderte riesige Kübel mit scharfriechenden Chemikalien lagerten, darunter sämtliche Stoffe, die zur Herstellung von Sarin erforderlich waren. Man entdeckte biologische Waffen, Sprengstoff und automatische Gewehre. Täglich wurde die Liste der Funde länger und immer noch horrender. AUM Shinrikyo, so erfuhr die geschockte Öffentlichkeit, verfügte über ein Arsenal an Gift- und Kampfstoffen, das ausreichte, um mehrere Millionen Menschen auf einen Schlag zu töten.

Zahlreiche Sektenmitglieder wurden verhaftet, letztlich konnte in einem Versteck auch Shoko Asahara aufgespürt werden, der als gottgleich verehrte Begründer und Guru der Sekte. Knapp ein Jahr später wurde der Prozess gegen ihn eröffnet.

Erst im Nachhinein stellte man sich weltweit die entsetzte Frage, wie es möglich war, dass ein zunächst völlig unbedeutendes Grüppchen buddhistischer Glaubensfanatiker sich innerhalb weniger Jahre zu einer der bestorganisierten und kriminellsten Sekten der Welt hatte entwickeln können; und dies, ohne dass Polizei oder Medien sich im geringsten dafür zu interessieren schienen. Insbesondere stellte man erstmalig auch die Frage nach der Idee und Absicht dieser Sekte, von der, gleichwohl sie über ein Heer von mehr als fünfundvierzigtausend Mitgliedern verfügte, praktisch nichts bekannt war.

Shoko Asahara

Die Geschichte von AUM Shinrikyo ist die Geschichte des Shoko Asahara. Der Name des späteren Guru war eigentlich Chizuo Matsumoto. Geboren 1955 als vierter Sohn einer armen Strohmattenflechterfamilie besuchte er ein staatliches Internat für blinde Kinder und Jugendliche. Seine teilweise Sehkraft verschaffte ihm gegenüber seinen vollblinden Schulkameraden einen eminenten Vorteil: er konnte diese nach Belieben schikanieren und tyrannisieren.

Nach seinem Schulabgang heiratete er eine junge Frau aus wohlhabendem Hause, mit deren Geld er eine Klinik für alternative Medizin eröffnete, an der er, ohne die geringste medizinische Ausbildung, Patienten mit zweifelhaften Akupunktur- und Kräuterkuren behandelte. Zudem diente er sich als Handleser und Hellseher an. Trotz mehrfacher Verurteilungen wegen Betruges gründete er 1984 in Tokyo einen AUM Ltd. genannten Versandhandel für wundertätige Tinkturen, Amulette und sonstiges religiöses Zubehör.

1986 benannte er sein Unternehmen in AUM Shinzen No Kai (=AUM-Gemeinschaft der Magier vom Berge) um. Zugleich legte er seinen zu gewöhnlich klingenden Namen Chizuo Matsumoto ab und nannte sich fortan "Shoko Asahara". Er ließ sich einen Bart wachsen, kleidete sich in die elfenbeinfarbigen Gewänder eines Heiligen und behauptete, er könne nunmehr Kontakt zu Toten aufzunehmen, durch Betonwände gehen und frei in der Luft schweben. Ein Foto im japanischen UFO- und Esoterik-Magazin Twilight Zone , das ihn im Zustand der "Levitation" zeigte – ein simpler Aufnahmetrick – erwies sich als vorzügliche Werbung für die AUM-Gemeinschaft, deren Mitgliederzahl dadurch enorm zulegte.

Damit war sie allerdings nur eine unter zahllosen Kleinsekten im Japan der 1980er Jahre. Seit die Amerikaner nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg den Shinto-Glauben als Staatsreligion aufgelöst und damit Religionsfreiheit geschaffen hatten, entstand im Lande der aufgehenden Sonne eine unüberschaubare Fülle an Glaubensrichtungen und Kultgemeinschaften, die seit Mitte der 1970er zu einer Art spiritueller Hochkonjunktur – das fernöstliche Pendant der westlichen New-Age-Bewegung – führten. Tausende einschlägige Gruppierungen samt ihren jeweiligen Meistern und Gurus priesen ihre Heilsdienste an und buhlten um gutgläubige und vor allem zahlungskräftige Anhänger.

Dalai Lama

Asahara hatte die Idee, seinen eigenen und den Stellenwert seiner AUM-Gemeinschaft durch einen Besuch beim Dalai Lama aufzuwerten, der auch in Japan enormes Ansehen genoß. Im Sommer 1987 reiste er an dessen Exilregierungssitz im nordindischen Dharamsala, wo er aufgrund mitgebrachter Spendengelder sofort zu einer Privataudienz empfangen wurde. Nach seiner Rückkehr nach Japan verkündete er die Umbenennung seiner Glaubensgemeinschaft in AUM Shinrikyo (= AUM Höchste Wahrheit. Die Silbe AUM ist ein hinduistisches beziehungsweise buddhistisches Meditationsmantra, das, endlos wiederholt, die "letztgültige Wahrheit des Universums" zu enthüllen verspricht.)

Es folgten zahlreiche weitere Besuche in Dharamsala, bei denen die Spendenbeträge immer größer wurden. Bei seinem letzten Besuch brachte Asahara einen Koffer mit 45 Millionen indischen Rupees in bar mit (seinerzeitiger Gegenwert: rund 1,2 Millionen US-Dollar). Dafür wurde er vom tibetischen "Gottkönig" in verschiedene buddhistische Geheimlehren eingeweiht und letztlich im Mai 1989 mit zwei hochoffiziellen Empfehlungsschreiben ausgestattet, die ihn als "kompetenten religiösen Lehrer" und seine AUM-Sekte als "religiöse Organisation" auswiesen, der die "gebührende Anerkennung durch die japanische Regierung unbedingt zu empfehlen" sei. Diese Schreiben aus dem Büro des Dalai Lama waren entscheidend für die staatliche Anerkennung von AUM Shinriky und den nachfolgend kometenhaften Aufstieg der Sekte.

Empfehlungsschreiben des Dalai Lama, Foto: Archiv rage&reason
Empfehlungsschreiben des Dalai Lama, Foto: Archiv rage&reason

"Tausendjähriges Reich"

Asahara baute einen surrealen Persönlichkeitskult um sich auf und entwarf zu dessen Förderung ein wüstes Konglomerat wahllos zusammengefügter ritueller und dogmatischer Versatzstücke aus sämtlichen nur denkbaren spirituellen und okkulten Traditionen. Bedeutsamer als alle anderen Ideen aber war für ihn die des drohenden Weltuntergangs. Er spann seine Untergangstheologie wesentlich um die Hindu-Gottheit Shiva herum, zuständig für die Zerstörung der Welt. Seinen Shiva-Wahn ergänzte er durch die jüdisch-christliche Vorstellung des Armageddon, des letzten Gefechts zwischen Gut und Böse und dem Ende der Welt. Daneben bezog er sich gerne auch auf die düsteren Prophezeiungen des französischen Astrologen Nostradamus aus dem 16. Jahrhundert. Nostradamus' Werke waren in den siebziger Jahren ins Japanische übersetzt worden und rangierten seither auf sämtlichen Bestsellerlisten. Auch die Science-Fiction-Visionen von Isaac Asimov oder William Gibson spukten in Asaharas Kopf herum.

In seinen Predigten und Büchern verkündete er die kommenden Schrecken: Nachdem Japan bereits 1996 im Meer versunken sein werde, beginne 1999 das Ende der Welt. Anfang des neuen Jahrtausends würden Russland, China, die USA und Europa zusammenbrechen, im Jahre 2003 werde Armageddon mit einem Atomkrieg die gesamte Zivilisation auslöschen. Aus den Überresten der postapokalyptischen Welt werde allerdings eine neue Rasse von "Übermenschen" entstehen − die Gefolgsleute von AUM Shinrikyo. Ein neues, tausendjähriges Reich werde anbrechen, mit ihm, Shoko Asahara, als Regenten und Meister.

Durch die offizielle Anerkennung vor jeder Kontrolle geschützt, war AUM nicht mehr aufzuhalten. Asaharas abstruse Endzeit-Visionen, aufbereitet in einer Mischung aus Science-Fiction und Cyborg-Cartoon, fiel gerade bei den jungen Japanerinnen und Japanern der High-Tech-Generation auf fruchtbaren Boden; bei jenen social retards, deren gesamte Kindheit und Jugend sich um Computerspiele und Fantasy-Comics gedreht hatte. Über Anzeigen in Szenemagazinen und breitangelegte Werbekampagnen gelang es ihm, zahllose junge Menschen in seine Seminare und Meditationskurse zu locken. Sie waren fasziniert von Asaharas geschickt inszenierten Prophezeiungen der herandämmernden Apokalypse und der elitären Zusage des eigenen Überlebens in einer neuen, besseren, lebenswerteren Welt. Und sie waren fasziniert von seinem absolut irrationalen esoterischen Firlefanz. Ende 1989 verfügte AUM Shinrikyo über Zweigstellen in sämtlichen größeren Städten Japans. Selbst in New York hatte man bereits eine Dependance gegründet − AUM USA −, mit Büro in Manhattan. 1991 kam als "europäisches Hauptquartier" ein Büro in Bonn hinzu.

Blut und Sperma

Obwohl die Preise für die Kurse ständig hochgeschraubt und die Teilnehmer permanent zu Spenden gedrängt wurden, reichten die Einkünfte nicht aus, die ungezügelten Expansionsbestrebungen Asaharas zu befriedigen. Wie zu Beginn seiner Betrügerkarriere verhökerte er seiner gläubigen Anhängerschaft zu Irrwitzpreisen irgendwelche Wundermittel. So verkaufte er etwa Schnipsel seines Bartes als Heilsbringer, den Zentimeter zu exakt 375 US-Dollar. Auch sein schmutziges Badewasser, "Zauberteich" genannt, konnte käuflich erworben werden − für 800 US-Dollar pro Liter. Daneben bot er kleine Ampullen mit seinem Blut an, das dem Adepten ungeahnte Energieschübe und augenblickliche Superintelligenz versprach. Kosten pro Ampulle: 7.000 US-Dollar. Die Kosten für Sperma-Ampullen lagen noch darüber. Bevorzugt wurde auch mit Elektroschocks experimentiert: Asahara hatte den Prototyp einer Elektrodenkappe entwickeln lassen, ein helmförmiges, verdrahtetes Gerät, über das Stromstöße direkt ins Gehirn des jeweiligen Initianden verabfolgt werden konnten. Mittels gezielter und regelmäßiger Stromstöße, so Asahara, sei es den Adepten möglich, ihre Gehirnströme mit den seinen zu synchronisieren und damit übernatürliche Kräfte zu erlangen. Die batteriebetriebenen Stromkappen wurden später serienmäßig produziert und gehörten zur Grundausrüstung jedes AUM-Mitglieds. Preis: 70.000 US-Dollar.

Stockschläge und Isolationsfolter

Massenweise pilgerten die Gläubigen in die Zentren der Sekte. Wer Mitglied werden wollte, musste jedweden privaten Besitz an AUM Shinrikyo abtreten: Ersparnisse, Wertpapiere, Grund- oder Immobilienbesitz, Schmuck, Kleidung, sogar Telefonkarten. Unermüdlich und bis zur totalen Erschöpfung wurde gearbeitet. Selbst der kleinste Ungehorsam wurde mit Stockschlägen geahndet. Regelmäßig gab Asahara an alle Zweigstellen Rundschreiben heraus, die das Strafmaß für verschiedene Vergehen festsetzten. Eine Woche Einzelarrest erwartete etwa auch den, der während eines Kurses sprach oder einnickte. In der Zelle gab es nur einen Toilettenkübel und einen Monitor, von dem rund um die Uhr und in ohrenbetäubender Lautstärke Asaharas Lehren und Mantrengesänge auf den Delinquenten herniederprasselten.

Zum Pflichtprogramm gehörten stundenlange "Meditationen" und psychophysische "Reinigungsübungen", bei denen die Anhänger angetrieben wurden, bis zum Blackout zu hyperventilieren; sie mussten immense Mengen Wasser trinken und dies dann wieder erbrechen; über extrem heiße Bäder und Megadosen selbsthergestellter Drogen wurden fieberhafte Wahnzustände erzeugt, die der Meister zu "mystischen Erfahrungen" umdeutete. Gelang einem Jünger die Flucht, schwärmten spezielle Rollkommandos aus und schafften ihn mit Gewalt zurück; er wurde stundenlang verhört und brutal gefoltert. Eine bis heute nicht bekannte Anzahl abtrünniger AUM-Mitglieder wurde von der Sekte ermordet; ihre Leichen wurden im Wald verscharrt oder in einem Hochleistungsmikrowellenofen verbrannt. Bei der Stürmung der Sektenzentrale in Kamikuishiki im Mai 1995 fand die Polizei ein Verlies mit etwa fünfzig Anhängern, die dort im Dämmerzustand vor sich hinvegetierten: Opfer von Strafaktionen oder Gehirnwäscheexperimenten; viele waren ohne Bewusstsein oder zu schwach, um zu stehen.

Armageddon

AUM Shinrikyo war innerhalb kürzester Zeit zu einer der reichsten Kultorganisationen der Welt aufgestiegen. 1995, nur sechs Jahre nach der einträglichen Empfehlung durch den Dalai Lama, verfügte man weltweit über mehr als 40.000 Mitglieder, das Vermögen der Sekte belief sich auf rund eine Milliarde US-Dollar. Zu Asaharas Wirtschaftsimperium zählten Dutzende profitable Firmen, darunter Ex- und Import-Gesellschaften, Restaurants, eine Computerdiscountkette, ein Krankenhaus, eine Fabrik für Präzisionsmaschinen; daneben betrieb er Fitnesszentren, Schönheitssalons, einen Partner- sowie einen Wahrsageservice und zahllose weitere Geschäfte. In Japan und Übersee erwarb er an die dreihundert Immobilien. Mit diesem Geld organisierte er die vorhergesagte Apokalypse.

In der Tat kann kein Horrorfilm übertreffen, was im Reich von AUM Shinrikyo Wirklichkeit wurde. Schon seit Anfang der 1990er wurde in geheimen Labors an der Herstellung biologischer Kampfstoffe gearbeitet. In erster Linie züchtete man Kulturen mit Botulismus-Erregern, deren Typ A, ein Vielfaches toxischer als Strychnin, als tödlichste aller biologischen Substanzen gilt. Daneben experimentierte man mit dem hochinfektiösen Milzbrand-Erreger und versuchte sich an dem tödlichen Ebola-Virus aus Zaire. Man stellte gewaltige Mengen an LSD und Amphetaminen her, produzierte Sprengstoffe wie TNT und baute eine computergesteuerte Fabrik zur Massenproduktion automatischer AK-47-Gewehre, der Standardwaffe der russischen Armee.

Die Blaupausen für die Gewehre lieferten Verbindungen, die Asahara in Moskau geknüpft hatte. Selbst mit Spitzenpolitikern rund um Vizepräsident Alexander Ruzkoj war er zusammengetroffen, wobei wiederum großzügige Spendengelder flossen. Bald standen Asahara in Russland Türen und Tore offen, AUM Shinrikyo konnte Filialen im ganzen Land etablieren. 1993 verfügte die russische Gliederung der Sekte bereits über zehntausend Mitglieder, 1995 waren es dreißigtausend. In Russland fanden sich aus dem Nachlass der Sowjetunion zahllose unterbezahlte oder arbeitslose Spezialisten für Massenvernichtungsmittel, Physiker, Chemiker, Biologen, Atomwissenschaftler, die Asahara für sich einzuspannen wusste. Kurz nach seinem ersten Russland-Besuch begann man in den Labors der Sekte mit Nervengiftversuchen. AUM Shinrikyo bediente sich auch auf dem Waffenschwarzmarkt Russlands: um 700.000 US-Dollar kaufte man einen Kampfhubschrauber, der, in Einzelteile zerlegt, über die Slowakei, Österreich und die Niederlande nach Japan verschifft wurde. Desweiteren zeigte man sich sehr interessiert an Gewehren mit Laserlinsen, Minen und Handgranten; auch an T-72-Panzern und einem MiG-29-Jagdbomber. Wie sich später herausstellte, stand auch ein 15-Millionen-Dollar-Angebot für Nuklearsprengstoff im Raume.

In der japanischen Sektenzentrale beschäftigten sich hochqualifizierte Wissenschaftler mit der Herstellung einer Strahlenwaffe. 1993 kaufte AUM eigens eine 200.000-Hektar-Farm in Australien, um dort nach Uran zu schürfen. Das Vorhaben scheiterte zwar, auf der abgelegenen Ranch konnte man dafür ungestört die neue Sarin-Produktion testen: Eine Herde Schafe verendete unter heftigen Krämpfen. Wenige Monate später erfolgte im japanischen Matsumoto der erste "Test" an Menschen.

Tag X

Im Sommer 1994 verfügte der Hitler-Bewunderer Asahara über ein Arsenal an Waffen und Kampfstoffen, um ganze Landstriche zu entvölkern. Er begann, mit Hilfe einer Litanei antisemitischer Texte aus dem Dritten Reich, gegen Juden zu hetzen − zu denen er auch Kaiser Akihito, Bill Clinton und Madonna zählte −, die sich verschworen hätten, Japan zu vernichten. Um dies zu verhindern, so kündete er seinen Anhängern, sei es nötig, sofort die Macht zu übernehmen. Der Plan zum Staatsstreich trug den Namen "Tag X".

Ein Spezialistenteam von AUM-Kämpfern sollte in die Hauptstadt Tokyo einmarschieren, deren Bevölkerung man zuvor durch einen verheerenden Luftangriff mit Sarin ausgelöscht hätte. Die Asahara-Truppe sollte die Errichtung einer Theokratie verkünden und Asahara zum neuen Führer der Nation ausrufen. Für den Einsatz trainierte eine paramilitärische Abteilung der Sekte im Gebirge den Nahkampf.

Das entscheidende Signal Armageddons kam unvorhergesehen. Am 17. Januar 1995 erschütterte ein mächtiges Erdbeben die Stadt Kobe in Zentraljapan, bei dem fünfeinhalbtausend Menschen starben. Asahara erklärte das Beben zu einem Angriff der USA mit einer "seismischen Waffe" und tat kund, es bleibe keine andere Wahl als der Kampf.

Nachdem die Polizei für den 21. März 1995 eine landesweite Razzia in allen Einrichtungen der Sekte angekündigt hatte, beschloss Asahara den Angriff. Als Ziel wurde der große U-Bahnhof Kasumigaseki im Zentrum Tokyos anvisiert. Über dem Bahnhof befinden sich wichtige Regierungs- und Verwaltungsgebäude, vor allem auch die Präsidien von Stadt- und Staatspolizei: Kasumigaseki gilt als das "Herz des japanischen Staates". Am 20. März, kurz nach acht Uhr morgens, brach hier das Inferno los.

Es folgten weitere Terroranschläge, unter anderem wurde dem Gouverneur von Tokyo eine Briefbombe zugestellt, durch die dessen Sekretär erheblich verletzt wurde. Am 4. Juli 1995, sieben Wochen nach der Verhaftung Asaharas, wurde ein weiterer Giftgasangriff auf zwei Tokyoter U-Bahnstationen unternommen, wieder mit Zyklon-B, der allerdings rechtzeitig entdeckt wurde und keine Opfer forderte.

Ende der AUM-Sekte?

Bis zum Sommer 1997 konnten mehr als hundert Führungskader der Sekte zu teils hohen Gefängnis- oder Geldstrafen verurteilt werden. Letztlich gab es 189 Verurteilungen, in den Hauptverfahren um die Giftgasanschläge und die Morde an den Abtrünnigen und Kritikern wurden zwölf Todesurteile verhängt. Im Februar 2004 wurde auch Asahara zum Tode verurteilt, die Vollstreckung der Urteile wurde immer wieder ausgesetzt.

Umbenannt in Aleph war und ist Aum Shinrikyo weiterhin aktiv. 2007 spaltete sich unter dem Namen Hikari no Wa (= Rad des Lichts) eine Fraktion ab, die sich auf die "reine Lehre" Asaharas beruft. Beide Gruppen stehen unter strenger staatlicher Überwachung.

Am 5. Juli 2018 wurde Shoko Asahara, zusammen mit sechs weiteren Führungsfiguren von AUM Shinrikyo, hingerichtet.