„Was uns Menschen verbindet“

NEUBURG/DONAU. (hpd/fowid) Im Textarchiv von fowid taucht ein neuer Name auf: Dr. Gerhard Medicus – Facharzt für Neurologie und Psychiatrie: "Der Apfel vom Baum der Erkenntnis und die Vertreibung aus dem Paradies: Über die Evolution von Moral." Zu seinem Buch „Was uns Menschen verbindet“, das dieses Jahr bereits in der zweiten Auflage erschien, hat Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer eine Rezension veröffentlicht.

Wissen Sie, was Leib- und Seelenwissenschaften sind? Beide Ausdrücke werden selten gebraucht: Der Brockhaus erweist sich dabei als völlig unergiebig; im Internet stößt man gerade mal auf ein „Lehrbuch der Seelenwissenschaft oder rationalen und empirischen Psychologie“ von Johann George Mussmann 1827; und dann findet man dort noch Hinweise auf das Leib-und-Seel-Höschen, mit dem wir als Buben geplagt wurden: ein einteiliges (Unter-)Kleidungsstück für den gesamten Rumpf, ausgestattet mit Frontschlitz und Heckklappe. Aber mit dem Leib-Seele-Problem kommen wir der Sache endlich doch näher. Es entsteht ja, weil Leib und Seele so verschieden zu sein scheinen und wir sie deshalb auch so verschieden behandeln. Es geht um Interdisziplinarität zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, und da die Naturwissenschaften vom Quark bis zum Quasar alle möglichen Systeme behandeln, hier aber nur die Naturwissenschaften vom Menschen gefragt sind, ist auch nur vom Leib die Rede, den man ja wohl nur dem Menschen zubilligt.

Schon Konrad Lorenz (1903-1989) nennt sein Buch über vergleichende Verhaltensforschung, das er in russischer Gefangenschaft 1944 bis 1948 verfasst hat, dessen Manuskript aber beim Umzug nach Altenberg verloren gegangen zu sein schien und das erst aus seinem Nachlass wieder auftauchte und 1992 erschien, „Die Naturwissenschaft vom Menschen“. Das zeigt schon, dass man – von der Medizin einmal abgesehen – den Menschen vorher vor allem als Gegenstand der Geisteswissenschaften verstanden hat. Darwin nicht nur auf die Morphologie anzuwenden, sondern auch auf das Verhalten des Menschen und auf seine „höheren“, seine geistigen Fähigkeiten und Leistungen – dazu bedurfte es weiterer Schritte, weiterer Einsichten, weiterer Kränkungen. Aber immer noch arbeiten die verschiedenen Forschungszweige für sich – was zwar bequem, aber nicht erfreulich ist.

Damit sind die drei großen Themen des Buches angedeutet:

  • Interdisziplinarität in der Anthropologie (Teil I, Schwerpunkt Wissenschaftstheorie in den Natur- und in den Geisteswissenschaften),
  • biologisch-evolutionäre Wurzeln des Menschen (Teil II, Schwerpunkt Ethologie, etwa Stammesgeschichte menschlichen Erkennens, Brutpflege, Moral, Hierarchien, Paarungssysteme),
  • weitere Studien zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Tier und Mensch (Teil III, Konstruktivismus, Bindung, Aggression und Aggressionshemmung, der Mensch als Gemeinschaftswesen).

Es geht also um menschliches Verhalten aller Art, um Humanethologie. „Ein weites Feld“, wird man sagen. In der Tat: ein Feld, in dem man sich leicht verirren kann und in dem die einen die anderen nicht mehr sehen und kaum noch hören. Die Kunst des Autors besteht dann aber gerade darin, die zahlreichen anthropologischen Aspekte durch Rückgriff auf die Evolution auf gemeinsame Wurzeln zurückzuführen.

(All das erinnert sowohl dem Titel nach als auch inhaltlich an das ausgezeichnete Buch des Ethnologen Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 400 Seiten, das von dem Ethologen Medicus merkwürdigerweise nicht erwähnt wird, ein unbeabsichtigter, aber deutlicher Beleg für die Schwierigkeit gelebter Interdisziplinarität!)

Wer schreibt so ein Buch? Gerhard Medicus, geboren 1950, ist Mediziner und Biologe, seit 1988 Arzt für Allgemeinmedizin, seit 1994 Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Abteilungsleiter am Psychiatrischen Krankenhaus in Hall, seit 1990 an der Universität Innsbruck Lehrbeauftragter für die Einführung in die Humanethologie. Dass er beruflich sowohl menschliches Normalverhalten als auch Verhaltensstörungen kennt, kommt seinem Buch sehr zugute. Mit leichter Hand verbindet er theoretische Überlegungen mit praktischen Beispielen, wechselt er zwischen Mensch und Tier, zwischen normalem und abweichendem Verhalten.

Der Autor macht kein Hehl daraus, dass er zu allen Kapiteln eigene Arbeiten aus den letzten zwanzig Jahren herangezogen hat, die weit verstreut in Zeitschriften und Sammel¬bänden erschienen sind oder von ihm für Unterrichtszwecke erarbeitet wurden. Da ist es einerseits kein Wunder, dass in den insgesamt zwölf Kapiteln sehr unterschiedliche Aspekte zur Sprache kommen, sodass man über die zahlreichen Interessen und Kompetenzen des Autors nur staunen kann; andererseits erklären sich so auch die thematischen Sprünge bzw. die immer neuen stofflichen Überraschungen.

Dem pädagogischen Interesse des Autors zu verdanken sind die zahlreichen Übersichten, Listen und Tabellen, die das Druckbild auflockern und zugleich den Blick am längsten festhalten. Wer je Tabellen erarbeitet hat, weiß auch, wie viel Arbeit der Autor hineinsteckt, damit der Leserin Arbeit abgenommen wird. So gibt es S. 68-69 einen hypothetischen Stammbaum psychischer Leistungen, der auf Ideen von Konrad Lorenz beruht, S. 75-76 eine lehrreiche Liste „Der Mensch, von Natur aus ein Kulturwesen. Universelle Merkmale menschlicher Kulturen“. Zu Recht warnt Medicus dort davor, höheren Säugetieren und Vögeln nicht nur Tradition, sondern auch Kultur zuzuschreiben, weil dann für die Sonderstellung des Menschen kein geeigneter Begriff mehr zur Verfügung steht.

Überall deutlich wird die Verbindung zu Konrad Lorenz und seinen Schülern, etwa zu Norbert Bischof, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Rupert Riedl, Wulf Schiefenhövel, Wolfgang Wickler; aber wer in der Verhaltensforschung hat nicht von Konrad Lorenz gelernt? Besonders originell finde ich, dass Medicus als Einführung ein Vorwort verwendet, das Lorenz 1987 für ein anderes Werk zur Psychiatrie geschrieben hat. Er legt nahe, dass Lorenz, hätte er für den vorliegenden Band noch ein Geleitwort schreiben können, Ähnliches gesagt hätte. Mir gefällt an dem Buch, dass man auf jeder Seite etwas lernen kann.

Gerhard Vollmer

Gerhard Medicus „Was uns Menschen verbindet“ - Humanethologische Angebote zur Verständigung zwischen Leib- und Seelen¬wissen¬schaften. VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung. Verlagsreihe „Am Zügel der Evolution“, Hrsg. von Wulf Schiefenhövel und Judith Schuler. Berlin 2013, 222 S., € 30,-/sFr. 39,50.

Erstveröffentlichung der Rezension in der Naturwissenschaftlichen Rundschau 7/2012. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers.