BERLIN. (hpd) Im Jahr 2012 ist erstmals in das Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit in Deutschland geraten, dass Vorhautbeschneidungen bei männlichen Kindern lebenslange erhebliche Probleme physischer und psychischer Art hervorrufen können. In der Beschneidungsdebatte nach dem Kölner Landgerichtsurteil im Mai 2012 kamen auch solche Aspekte ausführlich zur Sprache. Diese waren zuvor allenfalls in kleinen Zirkeln ein Thema.
Die Befürworter der Beschneidung an Minderjährigen aus religiösen Gründen waren bemüht, jeglichen und zwar auch nur den geringsten Nachteil für die Betroffenen zu leugnen oder zumindest zu bagatellisieren und stattdessen vermeintliche Vorteile zu behaupten. Was die Befürworter von religiösen Ritualen und Traditionen erreichen konnten, ist das gegen das Kindeswohl gerichtete Gesetz vom 12.12.2012, das die betroffenen Minderjährigen zu bloßen Objekten der religiösen und traditionellen Vorstellungen ihrer Eltern herabwürdigt, und das der Form nach ein allgemeines Gesetz, der Sache nach jedoch ein religiös begründetes Sondergesetz für männliche Kinder aus jüdischen und muslimischen Familien darstellt, und das sie als Sieg gefeiert haben. Was sie jedoch nicht erreichen konnten: das Thema ist nicht vom Tisch, und es finden sich immer wieder Männer, die von den negativen Folgen einer Beschneidung berichten.
Es ist ein großer Verdienst, dass sich im Jahr 2012 etliche betroffene Männer gewagt haben, mit ihren Problemen aufgrund der Beschneidung in die Öffentlichkeit zu gehen und über ein Tabuthema zu sprechen. Dabei war von großer Bedeutung, dass sich auch Männer geäußert haben, die – wenngleich meist aus nichtreligiösen Gründen – erst in oder nach der Pubertät beschnitten wurden. Sie konnten deshalb auch einen Vergleich hinsichtlich ihrer Sexualität vor und nach der Beschneidung anstellen, und ihre Berichte waren niederschmetternd. Diesen Berichten hatten und haben die Beschneidungsbefürworter nichts irgendwie Relevantes entgegenzusetzen; sie wollen sich hiermit auch gar nicht auseinandersetzen und so wiederholen sie beständig ihr Mantra "Das haben wir immer schon so gemacht" und dass sich bei ihnen noch kein Mann beklagt habe.
Jetzt hat sich erneut ein Betroffener zu Wort gemeldet: Andreas A.*, 29 Jahre, beruflich als Softwareentwickler tätig und seit einigen Jahren mit einem gleichgeschlechtlichen Lebenspartner zusammenlebend.
Andreas A. schildert in einem eindrucksvollen und dramatischen Bericht die Folgen seiner (aus medizinischen Gründen) im Alter von acht Jahren vorgenommenen Beschneidung. Er berichtet von mehrtägigen erheblichen Schmerzen (trotz Vollnarkose und zusätzlicher örtlicher Betäubung bei der im Krankenhaus vorgenommenen Beschneidung), von seinem Gefühl, "verstümmelt und unvollständig" und "kein richtiger Junge" mehr zu sein – eine Vorstellung, die fest in seinem Kopf verankert ist und auch heute noch negative Auswirkungen hat -, später von erheblichen Schamgefühlen beim Umkleiden im Sportunterricht und bei der Beschäftigung mit diesem Thema im Religionsunterricht, was auch zu Dauerstress und Kopfschmerzen führte, mit der Folge, dass er vom Gymnasium auf die Hauptschule wechseln musste.
Er beschreibt eine ständig vorhandene Angst und Scham, dass die Anderen merken könnten, dass er beschnitten war – eine Peinlichkeit, mit der er, im Kindesalter, völlig alleingelassen war – über Jahre – und ohne Hilfe lernen musste, damit zu (über)leben. Andreas A. benennt seine Probleme mit der Sexualität und schreibt über seine Gefühle, nachdem alle Versuche, der Beschneidung eine positive Bedeutung zu geben, gescheitert waren: "Noch immer empfand ich Neid und ein Gefühl der Minderwertigkeit, wenn ich daran dachte, dass andere Jungen einen vollständigen Körper haben durften und ihnen nicht am intimsten Bereich ihres Körpers ein Stück weggeschnitten worden war."
Und (fast) schlimmer noch: wenn er dann doch einmal wagte, mit Freunden oder Mitschülern darüber zu sprechen, dann wurden seine Probleme nicht ernst genommen. "Es sind doch so viele Jungs beschnitten, das ist doch ganz normal" hieß es dann etwa.
Beim Thema Sex macht er in eindrucksvoller Weise deutlich, was den Unterschied der sexuellen Empfindungen bei einem beschnittenen und bei einem nichtbeschnittenen Mann ausmacht. Diesen Unterschied kennt Andreas A. aus eigenem Erleben, da er schwul ist. Er schreibt: "Da mir mit dem sensiblen inneren Vorhautblatt eine erogene Zone weggeschnitten wurde und auch die Eichel wegen des fehlenden Schutzes mit der Zeit abgestumpft war, war ich hauptsächlich am Eichelrand empfindlich, wo sich noch ein paar Millimeter Vorhautrest und die Beschneidungsnarbe befand" und beschreibt seine Gefühlswelt, in der Trauer um den Verlust der eigenen Vorhaut, die ihm widerfahrene Verstümmelung und auch Neid und Gefühle von Minderwertigkeit gegenüber Männern mit intakter Vorhaut stets wiederkehrend sind und nur schwer ausgeblendet werden können. Bis hin zu depressiven Phasen haben ihn diese Gefühle geführt, die bis heute erhebliche Auswirkungen auf sein Leben haben.
Die bundesweite Beschneidungsdebatte des Jahres 2012 führte bei Andreas A. dazu, dass seine aus der Beschneidung resultierenden Probleme wieder – mit voller Wucht und nicht verdrängbar - zum Vorschein kamen und er in einem langen sich über Monate hinziehenden schmerzhaften Prozess sich mit ihnen auseinandersetzte, ja auseinandersetzen musste, bis er sie einigermaßen verarbeiten konnte. Durch die über ein halbes Jahr lange intensive Auseinandersetzung mit seinem Trauma ist es ihm dann gelungen, offener mit seinen Problemen umgehen zu können.
Dies alles führt Andreas A. in seinem Bericht aus. Und er versinkt nicht in Pessimismus. Sein Bericht endet mit diesen Sätzen: "Zur Zeit bin ich daran beteiligt, einen Verein zu gründen, der sich für die genitale Selbstbestimmung von Kindern und besonders auch von Jungen einsetzt. Ich möchte dort mit den Erfahrungen meiner Beschneidung dazu beitragen, dass das Leid vieler beschnittener Männer in der Gesellschaft erkannt wird und unnötige Beschneidungen der Vergangenheit angehören."
Der Bericht von Andreas A. ist ein weiterer Beleg dafür, zu welchen Folgen Beschneidungen von Minderjährigen führen (können). Dieser Beleg wird allen jenen, die solche Folgen leugnen oder bagatellisieren, vorgehalten werden können. Mit Tatsachen gehen die Ideologien – diese Entwicklung geht weiter, und Betroffene wie Andreas A. haben einen wesentlichen Anteil daran. Danke.
Walter Otte
*Der vollständige Name des Betroffenen ist der Redaktion bekannt
Der Bericht ist auf den Folgeseiten in voller Länge dokumentiert.